Das Glück geht nicht zu Fuß: Wie mein Leben ins Rollen kam (German Edition)
kam. Ich nickte.
In diesem Augenblick begriff ich, dass unsere Familie nicht mehr existierte. Hat sie jemals existiert, fragte ich mich und schob den Gedanken schnell weg. Ein komisches Gefühl überkam mich. Ich schaute zur Seite und entdeckte einen Feuerwehrmann, der an einer Wand lehnte und mich anstarrte.
Was glotzt der so, dachte ich und drehte ab, um Tim zu holen und nach Hause zu fahren. Eine kleine Hoffnung – vielleicht konnte ich Markus doch noch motivieren. Doch daheim fragte er mich nicht mal, wie es war, und seinem Gesicht entnahm ich, dass er die Feuerwehr vergessen hatte. Es war nicht wichtig für ihn. Wichtig war das, was auf der Mattscheibe passierte.
Wenige Tage später wollte der Personalchef von mir wissen, ob es sein könnte, dass ich unterfordert sei. Ich erschrak ein wenig. Machte ich den Eindruck, ich sei unglücklich mit meinem Job? Das wollte ich nicht, denn ich ging ja gern arbeiten, wenn mir die Arbeit auch nicht allzu viel Spaß machte. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und blieb bei der Wahrheit. Ich nickte.
»So etwas dachte ich mir schon«, schmunzelte der Personalchef. »Es gibt derzeit einmalig die Möglichkeit für Regierungsangestellte mit Abitur, ein dreijähriges Studium zu absolvieren, wie das ja von den Beamtenanwärtern bekannt ist. Nach diesen drei Jahren und bestandenen Prüfungen können die Absolventen verbeamtet werden. Nun, Frau Kiefer, was meinen Sie?«
Es verschlug mir die Sprache – und das passiert nicht oft. Dieser Chef kannte mich doch kaum!
»Es ist eine einmalige Chance«, legte er nach.
Endlich meldete sich meine Stimme zurück: »Vielen Dank. Das klingt toll! Und dass Sie an mich denken. Aber ich hab doch einen kleinen Sohn …«
»Der Unterricht findet am Vormittag statt.«
»Am Vormittag«, wiederholte ich perplex.
Er lachte: »Schlafen Sie eine Nacht drüber! Meiner Einschätzung nach wären Sie genau die Richtige für dieses Studium. Sie haben einen wachen Verstand, eine rasche Auffassungsgabe, sind fleißig und intelligent, können gut mit Menschen umgehen. Damit will ich sagen: Die Personalabteilung sollte keine Endstation für Sie sein.«
»Danke«, stammelte ich und brauchte eine Weile, ehe ich mich von dieser Überraschung erholte.
So ein großartiges Angebot! Wollte ich noch mal die Schulbank drücken? Ein Studium? Das bedeutete viel lernen. Ich war keine achtzehn mehr. Ich war Mutter, und ich hatte Eheprobleme. Wie sollte ich das schaffen? Ich würde mich grenzenlos überfordern. Aber das war eine Riesenchance! Sie reizte mich. Weiterkommen! Etwas Neues lernen! Raus aus dieser langweiligen Personalabteilungstipperei! Ja! Nein, Ines, mach langsam. Du mutest dir meistens zu viel zu, und dann stresst du dich. Du möchtest vor allem für Tim da sein – wie soll das gehen, wenn du Tag und Nacht lernen musst?
Wer sagt denn, dass ich Tag und Nacht lernen muss?, meldete sich eine begeisterte Stimme.
Das ist so beim Studieren, erwiderte die Besserwisserin.
Quatsch! Das Lernen ist mir immer leichtgefallen, ließ sich die Begeisterte nicht ausbremsen.
Ja, als du jünger warst, widersprach die Vorsichtige.
»Ines!«
Der Schrei einer Kollegin, die ich beinah über den Haufen gefahren hätte, stoppte meinen inneren Dialog, wenigstens vorübergehend. Abends erzählte ich Markus von dem Angebot. Er war mir keine Hilfe mit seinem Standardsatz: »Das musst du wissen.«
Ich schlief wenig in dieser Nacht und kam zu dem Ergebnis, dass nicht Ines als Einzelperson über diese Veränderung entscheiden würde, sondern Ines als Mutter. Ich würde das Angebot annehmen, wenn ich Tim dabei nicht vernachlässigen müsste. Am nächsten Vormittag zog ich einige Erkundigungen ein, und was ich erfuhr, klang vielversprechend. Die Schule endete täglich um 13 Uhr. Da hatte ich sogar noch ein Zeitpolster, um einzukaufen, ehe ich Tim von der Krippe oder später vom Kindergarten abholen musste. Lernen konnte ich, wenn er schlief, und am Wochenende.
Ja, das klang alles wunderbar … Wo war der Pferdefuß? Wahrscheinlich würde ich gar nicht in die Schule reinkommen, weil ich mit dem Rollstuhl an der Eingangstür hängenblieb, oder es gab kein Behinderten-WC. Ich vereinbarte einen Besichtigungstermin und konnte es nicht fassen. Direkt vor dem Eingang empfing mich ein Behindertenparkplatz. Im Erdgeschoss gab es eine Behindertentoilette. Die Rektorin führte mich durch das Gebäude und versprach mir: »Sollten Sie sich für das Studium entscheiden, sichere
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