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DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL: Roman (German Edition)

DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL: Roman (German Edition)

Titel: DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Salchow
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aufgehört hatte, das Unfassbare der Sache selbst in Frage zu stellen, so ließ ihn doch der Gedanke an den Grund dieser Verbindung nicht los. Warum er? Warum sie? War es das Schicksal, das die beiden miteinander verband? Und wer wusste, dass er diese Bindung genau jetzt besonders nötig hatte?
    Er griff nach seiner Jacke und zog das Buch aus der Innentasche.

    Hast du je die Leute beobachtet, die sich tagsüber im Park herumtreiben? Ich weiß, früher waren wir oft zusammen dort und haben das bunte Treiben verfolgt, aber gestern, an meinem freien Tag, habe ich zum ersten Mal eine erstaunliche Entdeckung gemacht: Es gibt Tageszeitmenschen. Ja, tatsächlich. Menschen, deren Persönlichkeit davon abhängt, zu welcher Tageszeit sie unterwegs sind. Und ich habe festgestellt: Mir sind die Mittagsmenschen am liebsten.
    Die Leute, die morgens unterwegs sind, erscheinen mir schon auf dem Weg ins Büro gestresst. Vielleicht stehen sie auch unter solch einem extremen Termindruck, dass ich zwischenzeitlich den Eindruck habe, einen Raketenschweif hinter ihren hastigen Bewegungen zu erkennen. Ausdruckslose Augenpaare mit ernst zusammengeschobenen Augenbrauen, die an mir vorüberfliegen. Die Abendmenschen sind den Morgenmenschen im Grunde sehr ähnlich, nur mit dem Unterschied, dass abends die Schultern etwas tiefer hängen, die Schritte etwas langsamer sind und die Augenpaare zwar noch immer ernst wirken, allerdings eher wegen der Dinge, die hinter ihnen liegen, als aufgrund der bevorstehenden.
    Die Mittagsmenschen jedoch unterscheiden sich in beinahe allem von den übrigen Tageszeitmenschen. Sie scheinen völlig frei zu sein: keine Sorgenfalten auf der Stirn, kein hastiger Blick auf die Uhr und kein Handy an den Ohren. Man sieht sie mit kleinen Papiertütchen durch den Park schlendern, während sie hin und wieder in ein Fladenbrot beißen oder mit einer Wasserflasche in der Hand auf einer Bank Platz nehmen und verklärt in die Ferne schauen. Dabei erwecken sie stets den Eindruck, keinem Zeitgesetz zu unterliegen, nirgends gewesen zu sein und auch nirgends hinzumüssen. Sie sind einfach da. In diesem einen Moment. Eben weil sie Mittagsmenschen sind.

Kapitel 9
    Sie legte den Stapel Karten zurück in das mit Samt überzogene Kästchen und griff nach dem Zeitungsausschnitt, der unter einem Gummiband im Deckel befestigt war. Vorsichtig strich sie das Papier glatt und las, zum ersten Mal seit dem Erscheinen der Annonce, die Worte auf dem Ausschnitt.

    In Erinnerung an

    Patrick Löhr

    17. März 1976 - 13. September 2010

    Die Zeit bleibt nicht stehen, aber sie schaut zurück, wenn sie jemand Wertvollen verloren hat.

    Sie war sich nicht sicher, welcher Drang sie geleitet hatte, nach all den Monaten das Kästchen hervorzuholen. Dennoch war sie stolz auf sich, stark genug zu sein, die Beileidsbekundungen und Annoncen zum ersten Mal seit langem zu betrachten. In den letzten Tagen hatte sie eine erstaunliche Entdeckung gemacht: Der Schmerz, so tief er auch saß, fing langsam an, ein Teil von ihr zu werden, gegen den sie sich nicht mehr aufzulehnen versuchte. Und gerade das machte ihn auf seltsame Weise erträglich. Zumindest in hellen Momenten, wenn sie in den Gedanken an die Arbeit Ablenkung fand oder sich beim Spaziergang durch den Park ihrer Position im großen Ganzen des Universums bewusst wurde.
    Sie faltete den Ausschnitt zusammen und steckte ihn zurück unter das Gummiband. Als sie das Kästchen wieder zuklappte und den goldenen Verschluss in seine Fassung klemmte, tauchten plötzlich Bilder in ihrem Kopf auf, die sich in den vergangenen Monaten nur selten bemerkbar gemacht hatten. Viel zu sehr hatte sie sich darauf konzentriert, sie zu verdrängen. Die Schüsse, die sie nur vom Hörensagen kannte und die trotzdem noch Wochen nach dem schrecklichen Ereignis ihre Gedanken beherrscht hatten. Das Blut, das sich im lauwarmen Spätsommerregen auf dem Asphalt ausgebreitet hatte und den vorbeigehenden Menschen selbst Tage nach dem Drama noch ein Bild des Grauens bot.
    Sie spürte, wie ihr Mut ins Wanken geriet. Es tat ihr nicht gut, den Erinnerungen geballt den Zugang zu ihrem Bewusstsein zu gewähren. Sie würde lernen müssen, einzelne Bilder zuzulassen, während sie diese sorgsam von den restlichen Erinnerungen trennte. Aber auch das würde ihr noch gelingen.
    Sie öffnete die Seitentür des Schreibtisches und stellte das Kästchen auf das unterste Regal. Sie atmete ein. Wieder aus. Langsam schloss sie die Seitentür.
    Es war Zeit

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