DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL: Roman (German Edition)
bekommen."
"Mein Schädel ist leer", antwortete Nita leise. "Kein Platz mehr für irgendwelche Fragen oder Gedanken, die mir die Luft zum Atmen nehmen. Ich muss mich selbst finden, bevor ich jemand anderen finden kann. Bevor ich überhaupt jemand anderen wahrnehmen kann."
"Es tut mir leid." Langsam nahm Claudia die Hände von ihren Schultern. "Ich war vielleicht etwas direkt. Aber nur, weil du mir so wichtig bist. Weil ich nicht dabei zusehen möchte, wie du nach und nach deine eigene Persönlichkeit verlierst und dich ganz und gar für Patrick aufgibst. Du schreibst ihm Briefe in ein Tagebuch, das du ständig bei dir trägst. Du starrst in jeder freien Minute auf das Medaillon mit seinem Bild. Manchmal glaube ich, dass du den Schmerz suchst , Nita. Selbst als er noch lebte, hast du nicht so oft an ihn gedacht, wie du es jetzt tust."
"Als er lebte . Ja." Nita drehte sich um und schaute sie mit fremdem Blick an. "Genau das ist der Unterschied."
*
Er blätterte eine Seite zurück, eine Seite vor und blieb schließlich erneut auf Seite 139 hängen. Es bestand kein Zweifel: Nitas Brief fehlte.
Zum ersten Mal, seitdem er das Buch in die Hand genommen hatte, befand sich auf Seite 139 der Text, der ursprünglich dort gestanden haben musste. Der Text des Romans. Der Text über Rose, Adam und das rote Cabriolet. Wie war das möglich? Er versuchte, sich zu erinnern. Wann immer Nita einen neuen Brief geschrieben hatte, erschien dieser im Buch. Bis dahin war der Brief vom Vortag zu finden. Wenn sie also einfach nicht dazu gekommen war, einen neuen Brief an Patrick zu schreiben, müsste dann nicht wenigstens der alte vorzufinden sein?
Simon begann zu grübeln. Der erste Weihnachtstag. Ein Tag, den man mit der Familie verbrachte. Vielleicht war auch Nita, so wie er, über die Feiertage bei Verwandten eingeladen und verschwendete keinen Gedanken daran, Patrick zu schreiben. Wieder verwarf er die Theorie, als er auf denselben Schluss kam: Unter diesen Umständen wäre wenigstens der Brief vom Vortag zu finden.
Er klappte das Buch zu, öffnete es erneut. Blätterte. Grübelte. Doch der Inhalt der Seite blieb unverändert.
Was war geschehen? Hatte sie von der Bindung zwischen ihm und dem Buch erfahren? War das Band zwischen ihnen aufgelöst, weil er irgendeine Botschaft nicht ausreichend gewürdigt hatte oder dem Sinn der Bindung nicht entsprechend gefolgt war?
Er bekam Angst. Angst davor, nicht nur heute, sondern auch künftig keinen Brief mehr von Nita vorzufinden. Angst davor, sie verloren zu haben, bevor er sie finden konnte.
Ein Klopfen. Die Tür seines Zimmers öffnete sich. Marie.
"Darf ich stören?"
Er schob das Buch zur Seite. "Komm rein."
"Frau Jäger hat sich inzwischen eingerichtet", sagte sie. "Das Zimmer scheint ihr zu gefallen."
Er nickte. "Ich finde es großartig von dir, dass du meinem Vorschlag zugestimmt hast. Der Gedanke, dass sie das Weihnachtsfest allein zu Haus verbringen soll, war einfach traurig."
"Wo Platz für fünf ist, ist auch Platz für sechs."
"Das hab ich mir auch gedacht."
"Und?" Sie lehnte sich gegen den Türrahmen. "Hat sich inzwischen jemand auf deine Annonce gemeldet?"
"Interessiert dich das wirklich?"
"Würde ich sonst fragen?"
"Niemand hat angerufen", antwortete er. "Und auch sonst habe ich kein aktuelles Lebenszeichen von Nita."
"Wie meinst du das?"
Er legte die Hand aufs Buch. "Seite 139. Kein Brief. Keine neuen Worte. Es scheint, als wäre die Verbindung zwischen uns unterbrochen."
Sie schwieg, und er fragte sich, ob sie seine Worte verstanden hatte.
"Vielleicht ist es besser so", sagte sie schließlich.
"Besser?"
"Besser für dich. Besser für deinen Seelenfrieden."
"Ich hatte geahnt, dass du so etwas sagen würdest."
"Weil es die Wahrheit ist, Simon", antwortete sie. "Du hast dich verrannt. Das wissen wir beide."
Er war ihr nicht einmal böse, dass sie ihn nicht verstand. Er selbst hatte Probleme damit, es zu verstehen. Wie konnte er es von ihr erwarten?
"Vielleicht will sie tatsächlich nicht gefunden werden", sagte er.
Marie lächelte. Beinahe erleichtert. Und es schien, als hätte sie darauf gewartet, dass auch ihn diese Erkenntnis ereilt.
"Trotzdem werde ich es nicht einfach hinnehmen können."
"Du müsstest dich selbst mal reden hören", antwortete sie. "Diese Verbissenheit. Diese verzweifelte Suche. Wozu das alles, Simon? Und wofür?"
Er öffnete die Schublade des Schreibtischs, legte das Buch hinein und schloss sie wieder.
"Soll ich dir beim
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