DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL: Roman (German Edition)
uns zu spüren geglaubt habe, trotz der Tatsache, dass wir uns nicht kennen, für ausreichend gehalten habe, um dir den Grund für meine Suche nach dir zu offenbaren. Es tut mir leid. Alles. Und ich könnte es verstehen, wenn dieser Brief jetzt in tausend kleinen Fetzen in deinem Papierkorb liegt. Niemand könnte es dir verübeln.
Ich kann nicht von dir erwarten, dass du die Geschichte mit dem Buch verstehst, deshalb werde ich sie von nun an auch nicht mehr erwähnen. Die Frage ist nur: Gibt es überhaupt ein "von nun an"? Ich könnte verstehen, wenn du mich nicht wiedersehen willst, ganz gleich, ob uns dasselbe Schicksal miteinander verbindet oder nicht. Du hast in den letzten Monaten eine Menge durchgemacht. Genau wie ich. Da reagiert man auf unglaubwürdige Dinge (und Menschen) sicher viel empfindlicher, als man es unter anderen Umständen getan hätte. Alles, was ich dir sagen kann, ist, dass ich weiß, wie du dich fühlst, Nita. Und dass mein Wunsch, jemanden zu finden, der weiß, was ich fühle, der Grund dafür war, dich aufzusuchen. Dir von dem Buch zu erzählen. Dir einfach alles zu erzählen. Wenn ich die Gelegenheit dazu hätte.
Seitdem ich Emma verloren habe, ist nichts mehr, wie es war. Ich bin nicht mehr derselbe. Anfangs habe ich mich in einer Art Nebel verloren, wie unter einer Glocke gelebt, nichts mehr von der Außenwelt wahrgenommen, geschweige denn an mich herangelassen. Alles, absolut alles, war egal. So sehr meine Mitmenschen, ganz besonders meine Schwester Marie, versucht haben, mich davon zu überzeugen, dass das Leben nach wie vor lebenswert ist, so sehr habe ich mir gewünscht, mich nur ein einziges Mal nicht erklären zu müssen. Niemandem verständlich machen zu müssen, warum es so viel leichter für mich ist, die Augen zu verschließen, anstatt sie offen zu halten. Und immer wieder habe ich mich gefragt, ob es jemanden gibt, der verstehen kann, was ich fühle.
Es ging nie um den eigentlichen Verlust. Sicher habe ich Emma vermisst, gelitten, sehr gelitten, von einen Tag auf den anderen ohne sie zu sein. Aber in Wahrheit war es viel mehr als das. Es war diese fast lähmende Unfähigkeit, meine Gefühle in Worte zu fassen. Nicht für jemand anderen. Für mich . Ich wollte es mir selbst erklären, ihn für mich selbst benennen können, diesen einen mächtigen Gedanken, von dem ich bis heute nicht weiß, ob er Frage oder Antwort ist. Ob er mir helfen kann oder das Ganze umso schmerzlicher für mich machen würde. Ich weiß nur, dass er in mir steckt. Immer wieder glaube ich, dass ich aufhören könnte, mich selbst zu quälen, wenn es mir gelingen würde, diesen Gedanken, dieses Gefühl in Worte zu fassen. Aber ist das wirklich die Antwort? Kann mir das wirklich helfen? Und warum kann ich mich nicht damit abfinden, dass es vielleicht niemals gelingen wird, es in Worte zu fassen?
Vielleicht ist das der Grund, warum ich auf das Wissen um deine Existenz geradezu besessen reagiert habe. Ich wollte dich finden, wollte wissen, wie du all diese Dinge verarbeitest und ob (und wenn ja, wie) es dir gelingt, deinem Leben einen neuen Sinn zu geben. Vielleicht war das albern. Ganz sicher sogar. Aber ich würde es immer wieder tun. Und ich werde es auch weiterhin tun, Nita. Keine Angst. Ich werde nicht vor deiner Tür lauern, im Laden auftauchen oder dich nachts per Telefon aus dem Bett klingeln. Aber ich werde dir schreiben. Und ich hoffe, dass du lesen wirst, was ich dir schreibe. Im Moment ist allein das Wissen, dass ich dir diese Gedanken mitteilen kann, eine Hilfe für mich.
Meine Schwester Marie würde mir die Leviten lesen, wenn sie wüsste, dass ich auf diese Weise Kontakt zu dir suche. Sie weiß von meiner Suche nach dir, meinem Wunsch, dich endlich kennenzulernen, und hat von Anfang an versucht, mir klarzumachen, dass ich mich verrannt habe. Dass ich mich zu sehr auf etwas fixiert habe, das mich am Ende nur ins Unglück treiben wird. Zum Glück habe ich gelernt, gewisse Dinge vor ihr zu verheimlichen. Sie hat es schon in unserer Kindheit verstanden, mir gehörig den Kopf zu waschen. Nur dieses Mal weiß ich, dass sie unrecht hat. Sie kann nicht verstehen, warum es mir so wichtig ist, dir zu schreiben.
Versteh mich nicht falsch, Nita, vielleicht geht es gar nicht so sehr darum, dir zu schreiben, mit dir zu reden, dich zu treffen. Vielleicht geht es vielmehr darum, dem einzigen Weg zu folgen, der mir das Gefühl gibt, in Emmas Sinn zu handeln. Wenn ich dir schreibe, ist es, als ob ich eine
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