DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL: Roman (German Edition)
ihrer Fragen beantworte. Als ob ich eine Tür durchschreite, die sie für mich geöffnet hat. Vielleicht klingt das verrückt. Aber glaub mir, es ist nicht verrückter als die Dinge, die wir sonst tagtäglich tun. Was ist schon normal? Und wer entscheidet, was normal ist? Letztendlich nehmen sich dieses Recht doch nur Menschen heraus, denen es bisher nicht vergönnt war, über den Tellerrand hinauszuschauen.
Ich habe mir nicht ausgesucht, über den Tellerrand zu schauen. Aber nun, da ich es getan habe, kann ich das Gesehene nicht vergessen. Ich will es auch nicht vergessen.
Ich hoffe, dass irgendetwas in diesem konfusen Wirrwarr an Gedanken auf Verständnis bei dir stößt. Dass du dich in irgendeinem dieser Worte wiederentdeckst und dass dich irgendeine dieser verwirrenden Zeilen letztendlich doch dazu bringt, mir zu antworten.
Wenn nicht, werde ich mich wieder melden. Tut mir leid, aber das wird sich leider nicht vermeiden lassen.
Simon
*
Liebe Nita,
um ehrlich zu sein: Ich habe nicht erwartet, dass du dich meldest. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich dich in meinem ersten Brief (und auch jetzt) einfach geduzt habe. Ein weiterer Grund, mir mit Missmut zu begegnen? Tut mir leid, wenn ich es mit unserer Vergangenheit und dem gemeinsamen Schicksal, das uns verbindet, einfach absurd finde, dich zu siezen. Aber zu einem Mann, der es sich herausnimmt, dir haarsträubende Gründe zu nennen, warum er nach dir gesucht hat, passt auch ganz gut, dass er dich einfach duzt. Vor allem, da dieser Briefwechsel ja bisher nicht wirklich ein Briefwechsel ist, sondern eine Art geschriebenes Selbstgespräch. Es liegt in deiner Hand, diesen Monolog zu einem Gespräch werden zu lassen.
Gerne würde ich dich um ein weiteres Treffen bitten. Es gibt so vieles, worüber ich mit dir reden möchte. Und noch viel mehr, worüber ich mit dir gemeinsam schweigen möchte. Für den Augenblick würde mir jedoch ein Brief genügen. Ich habe das Gefühl, dass dieser Kontakt uns beiden helfen könnte. Und ich kann und darf die Tatsache, dass es jemanden gibt, der dasselbe durchgemacht hat, nicht ignorieren. Ich bin sicher, du weißt, was ich meine. Und ich hoffe, du wirst den Mut haben, es dir selbst einzugestehen.
Bis dahin grüßt dich
Simon
*
Hallo Simon,
eine Frage habe ich tatsächlich: Welche Art von Mut meinst du, mit dem ich mir deiner Meinung nach irgendetwas eingestehen muss? Glaubst du, dass ich Angst davor habe, ehrlich zu mir selbst zu sein? Ich habe jedes einzelne dieser verfluchten Gefühle zugelassen. Seit dem Tag seines Todes. Seit der Beerdigung. Seit jedem sinnlosen Gespräch, das ich mit irgendwem darüber geführt habe. Ja, es hat uns vielleicht derselbe Tag und dasselbe Drama von unseren Partnern getrennt, aber das allein macht uns nicht zu Seelenverwandten. Es macht uns auch nicht zu unzertrennbaren Brieffreunden, die sich von nun an von ihren Tagesabläufen erzählen und irgendwann gemeinsame Busfahrten in den Harz unternehmen, während die Hände langsam faltig und die Haare grau werden. Ebenso wenig schreibt uns dieses gemeinsame Schicksal jenes 13. Septembers vor, dass wir irgendwann zusammen Fotos von unseren Ehen anschauen, uns gegenseitig die Hände halten, wenn uns die Sehnsucht nach der Vergangenheit überkommt, oder gemeinsam vor dem Kamin sitzen und Lieder hören, die auf unseren jeweiligen Hochzeiten gespielt wurden.
Woher auch immer du von meinen Briefen an Patrick weißt, es gibt dir nicht das Recht anzunehmen, dass du mich kennst. Und es gibt auch keinen Grund zur Annahme, dass ich dich näher kennenlernen möchte. Vielleicht hat mich die Tatsache, dass du deine Frau am selben Tag verloren hast, anfangs aufhorchen lassen. Vielleicht hat mich der Gedanke gereizt, diesen schrecklichen Tag aus der Sicht eines anderen zu erleben, zu erfahren, wie jemand anderes mit alldem umgeht. Vielleicht war es aber auch einfach nur der Wunsch, dem immer selben Trott zu entkommen, ohne mich von Patrick zu lösen. Etwas anderes zu sehen, etwas anderes zu hören, ohne ihn dabei aus dem Augenwinkel zu verlieren.
Das Glück im Augenwinkel. Ja, ich kenne das Buch. Und noch immer verstehe ich nicht, was das alles zu bedeuten hat. Aber soll ich dir etwas sagen? Ich will es gar nicht verstehen. Ich will einfach nur den Tag leben. Jeden neuen Tag. Ich will den Vögeln zuschauen, wie sie die Futterkugeln vor meinem Fenster mit ihren Schnäbeln zerhacken. Ich will Bücherregale entstauben, Lieferungen auspacken, nervige
Weitere Kostenlose Bücher