Das Glück in glücksfernen Zeiten
gerne tun würden. Mein Doktorvater hat mich seinerzeit scherzhaft gewarnt: Dieses Bildungslametta – damit war meine Promotion gemeint – nützt in unseren Verhältnissen auch nichts mehr. Immerhin bin ich mit meinem Bildungslametta (das würde ich heute gerne antworten) Geschäftsführer einer Großwäscherei geworden. Törichte Gedanken dieser Art verraten mir, daß sich das Gefühl meiner Hilflosigkeit steigert. In Wahrheit gehöre ich zu den vielen Menschen, die sich von ihrem Studium haben blenden lassen. Weil ich (zum Beispiel) Gadamers »Wahrheit und Methode« und Wittgensteins »Philosophische Untersuchungen« gelesen hatte, glaubte ich auch schon, ebenfalls auf dem Niveau dieser Bücher denken zu können. Mein Besonderheitsgefühl wuchs ins geradezu Unermeßliche. Ich brauchte Jahre, bis ich vom Berg meines Dünkels wieder herabgestiegen war. Ich bin dagegen, daß das Leben so merkwürdige Wege einschlägt! Vor einer roten Ampel bringe ich den Wagen zum Stehen. Rechter Hand liegt eine kleine verschmuddelte Wiese. Hasen, Enten und Eichhörnchen laufen umher. Es ist sonderbar, daß eine für Menschen so unwirtliche Gegend so viele Tiere anzieht. Besonders gefallen mir ein paar große Krähen, die wie übergewichtige Menschen langsam vor sich hinwanken. Beim Wiederanfahren fällt mir ein, daß Traudel schon damals, als sieihr Geschlecht mit Babyöl beträufelte (mit Babyöl, Herrgott!), schwanger werden wollte, und ich habe es nicht bemerkt, weil ich mir völlig sicher darin war, daß zwischen uns immer nur das geschehen würde, was ich mir vorstellte. Wie ich es wieder einmal haßte, mein verspätetes und deswegen lächerliches Verstehen. Es hat vermutlich nicht viel gefehlt, dann würde ich jetzt mit einem Kinderwagen hier umhergehen. Es ist mir erlaubt, den Firmenwagen erst am nächsten Morgen abzugeben. Gegen 18.30 Uhr treffe ich zu Hause ein. Seit Tagen steht ein gebrauchter Fernsehapparat im Eingangsbereich des Hauses. Es wird immer mehr Mode, daß die Leute die Sachen, die sie loswerden wollen, einfach irgendwo hinstellen. Ich nehme den Fernsehapparat und transportiere ihn nach draußen zu den Mülltonnen. Traudel betritt gegen 19.00 Uhr die Wohnung. Sie ist erkennbar müde, aber nicht ohne Energie. Beim Abendbrot erzählt sie weitschweifig, daß sie einem Kunden ihrer Bank, einem verheirateten Alkoholiker, einen weiteren Kleinkredit verweigern mußte. Ich überlege, ob ich von der Observierung der beiden Wäsche-Ausfahrer erzählen soll. Aber dann nimmt Traudel ihr Weinglas, zieht sich aus und setzt sich in Unterwäsche vor den Fernsehapparat. Ich hoffe, sagt Traudel, du nimmst es mir nicht übel, daß ich heute abend deinen IQ unterbieten muß. Wir lachen, als Peter Maffay auf dem Bildschirm erscheint und loslegt. Die Unterhaltungsmaschine des Fernsehens erinnert mich an meinen Friseur. Auch der Friseur kann die Leute, die in seinen Laden kommen, nicht unterhalten, obwohl er das gerne können möchte. Aber beide, der Friseur und das Fernsehen, hören nicht auf mit ihrem Nicht-Können. Deswegen entsteht zwischen meinem Friseur und mir die größtmögliche Einsamkeit. Sie würde auch jetzt eintreten, wenn es Traudels lustigen Hohn nicht gäbe. Ich schiebe einen Sessel an Traudels Sessel heran undhole mein Weinglas. Wir sind entschlossen, uns mit komischer Verachtung zu regenerieren. Nach zwanzig Minuten kniee ich vor Traudels Sessel und schiebe meine rechte Hand in ihre Unterhose. Ich warte darauf, daß Traudel den Fernsehapparat abschaltet, aber sie schließt, erschöpft, wie sie ist, nur die Augen. Ich ziehe Traudels Körper an den vorderen Rand des Sessels, drücke ihren Schlüpfer nach unten, bis er auf dem Boden liegt, und öffne ihre Beine. Einen solchen geschlechtlichen Kontakt nennen wir in unserer Privatsprache einen Besuch . Solche Besuche können lang dauern oder kurz, sie können zu einem sogenannten natürlichen Abschluß führen oder zu gar nichts. Auf jeden Fall gelten sie der momentweisen Aufhebung unserer Einsamkeit und der Minderung unseres immerzu ungeklärten Mangels. Daß nach einem Besuch alles ein wenig besser geworden ist mit uns, merken wir daran, daß wir hinterher einander viel stärker zugetan sind als vorher. Aber diesmal mache ich einen Fehler. In einer Ritze der Polsterung von Traudels Sessel finde ich wie üblich ein Kondom, entferne die Verpackung und ziehe es mir über. In diesen Augenblicken schließt Traudel beleidigt die Beine, öffnet die Augen und schaut mich
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