Das Glück in glücksfernen Zeiten
ratlos an. Ich bin nicht willens, auf meine Vorstellung von kinderloser Zukunft zu verzichten, und setze dafür auch meine Kraft ein, das heißt ich drücke mit den Händen Traudels geschlossene Beine auseinander. Es kommt zu einem Kampf der Wünsche, der uns mundtot und bitter macht. Fast wäre es mir gelungen, in Traudel einzudringen, aber sie greift in ihrer Bedrängnis zu der neben ihr liegenden Fernsehzeitschrift und haut sie mir nicht übertrieben hart, aber doch ernst und gezielt auf den Kopf. So etwas ist zwischen uns niemals zuvor geschehen. Ich lasse von Traudel ab, entferne das Kondom, ziehe Unterhemd und Unterhose an und gehe in die Küche. Ich weiß nicht, was ich machen soll, und setze mich an dasFenster und schaue auf die Straße. Es ist immer noch fast hell. Es gibt neuerdings arme Männer, die am Abend umherschweifen und in den Mülltonnen nach leeren Flaschen suchen. Ich schaue einem von ihnen zu, der offenbar fast schamfrei ist. Er trägt Gummihandschuhe und untersucht mit bedrückender Ausführlichkeit den Inhalt der Mülltonnen. Nebenan, aus unserem Wohnzimmer, tönen die Stimmen eines amerikanischen Liebesfilms. Im Haus gegenüber zieht eine junge Frau aus. Zuerst trägt sie mehrere Arme voller Leitzordner aus dem Haus und verstaut sie in ihrem vor dem Haus geparkten Opel. Dann Kartons voller Schuhe, Hausrat, Wohnzimmernippes. Ihr Freund steht hinter einem Fenster der Wohnung und schaut seiner Freundin beim Verschwinden zu. Über ihm brennt ein Kronleuchter, neben ihm steht ein Wäschetrockner. Danach schafft die Frau Kleidung nach draußen, sehr viel Kleidung, frisch gereinigt, alles verpackt in Plastikumhüllungen, alles auf Bügeln, die in dem Fond des Opels eingelagert werden. Zuletzt trägt die Frau (mit wehendem Blondhaar) wieder große Tüten hinaus, noch einmal aufgefüllt mit Schuhen, Nähsachen, Handschuhen, Mützen, Schals. Zum Schluß folgen mehrere Plastiktüten mit Lebensmitteln aus der Küche. Nach etwa fünfzehn Minuten sind die Auslagerungen beendet. Die Frau schüttelt ihren Haarschopf und setzt sich ins Auto. Sie fährt weg, ohne den verlassenen Mann noch einmal anzuschauen. Er nimmt die Wäsche vom Wäschetrockner und schaltet den Kronleuchter aus. Ich befinde mich in einer sonderbaren Mischung aus Trost und Aufruhr. Momentweise weiß ich nicht mehr, welche inneren Absichten ich verfolge, ich weiß nicht einmal, ob ich innere Absichten überhaupt noch habe. Lange bevor man tot ist, durchlebt man Phasen der Tödlichkeit. Was man dabei erlebt, erzählt man nicht gerne, es ähnelt dem Herangeschobenwerden eines Krankenbettes aneine Wand. Ich verlasse die Küche und das Küchenfenster, gehe hinüber ins Schlafzimmer und lege mich ins Bett. Ich lösche das Licht, ich will schlafen, aber der Schlaf kommt nicht.
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
VIER
Ich bin zwar Geschäftsführer, aber wenn, wie zur Zeit, eine Werbekampagne läuft, bin ich gleichzeitig Akquisiteur beziehungsweise, um meine derzeitige Tätigkeit ohne Umschweife zu nennen, ich bin Vertreter. Und wer Vertreter ist, muß etwas anpreisen, in diesem Fall unser neues Angebot; und wer etwas anpreisen will, muß auf eine Weise reden, die mir das Fremdeste ist, was es auf der Welt überhaupt gibt. Dieser Tage habe ich meinen Bericht über meine Beobachtungen der beiden Fahrer Wrede und Ehrlicher in Eigendorffs Sekretariat abgegeben. Ich bin gespannt, nein, ich bin nicht gespannt, wie Eigendorff reagiert. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Abmahnung oder Entlassung. Jetzt sitze ich wieder in meinem Firmenwagen und beginne mit einer Route, die für die nächsten vier bis fünf Tage mein Programm sein wird: Ich werde etwa dreißig mittelgroße Hotels besuchen, denen wir unser Angebot vorgelegt haben. Es sind privat geführte Häuser, die einem nicht allzu harten Konkurrenzkampf ausgesetzt sind, weil das Hotelangebot im besucherstarken Rhein-Main-Gebiet (zwischen Messegelände, Flughafen, Opel-Werk, Chemiefabrik Hoechst, Erdöl-Raffinerie und Atomkraftwerk) noch immer nicht ausreicht. Von vornherein sinnlos ist es, Hotelketten ein Angebot zu machen, weil die Ketten entweder eigene Wäschereien haben oder sich ihrerseits in Händen von Wäscherei-Ketten befinden.
Nicht ein einziges der von uns angeschriebenen Hotels hat auf unser Angebot reagiert. Das heißt, ich muß wie ein hergelaufenerFremder die Foyers der Hotels betreten und meinen Spruch aufsagen. Ich bin jetzt den dritten Tag
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