Das Glück in glücksfernen Zeiten
solidarisch war und ihre Scham zu teilen versuchte. Heute glaube ich, der Aufenthalt in der Kreditabteilung war überhaupt das erste Mal, daß mich die Scham in größerem Stil heimsuchte. Anders kann ich mir die Wiedererinnerung der Fülle der Einzelheiten nicht erklären. Als der Kleinkredit endlich genehmigt war, betraten wir die Kinderabteilung im Erdgeschoß. Der Schuhkauf war für Kinder damals eine Art Unterhaltung. Schon die kleinen, nach vorne hin abgeschrägten Hocker gefielen mir, auf die man seinen bestrumpften Fuß stellen mußte. Die Verkäuferin war eine Weile unterwegs, bis sie mit vier oder fünf Schuhschachteln auf dem Arm zurückkehrte und das Anprobieren begann. Sehr gut gefielen mir auch die armlangen Schuhlöffel der Verkäuferinnen. Wo sind die Schuhlöffel und die Schuhverkäuferinnen geblieben? In heutigen Schuhgeschäften muß sich jeder seine Schuhe selber aussuchen, sie irgendwo anprobieren und dann zu einer Aufsichtsfrau sagen: Die nehme ich. Damals drückten die Schuhverkäuferinnen mit dem Daumen vorne auf die Schuhkappen und prüften, ob die Schuhe nicht zu klein oder zu eng waren. In den feineren Schuhgeschäften gab es sogar Durchleuchtungsgeräte, in die man Fuß und Schuh hineinschob und dann auf einem Röntgenbild sehen konnte, ob die Schuhe paßten oder nicht. An der Kasse fragte eine sanfte Frau, ob man nicht Schuhcreme, Schuhspanner, Einlagen oder Socken brauche? Immer habe ich auf die Anschaffung weiteren Zubehörs gehofft, aber Mutter hatte auf dem kurzen Weg zur Kasse schlechte Laune bekommen. Schluß jetzt! Nichts mehr wird gekauft! sagte sie halblaut zu mir herunter.Zu mir! Als wäre ich schuld gewesen an der Anschaffung der Schuhe. Erst spät ging mir auf, daß ich tatsächlich schuld war. Wenn ich nicht gewesen wäre, hätte sie die Schuhe nicht kaufen müssen und hätte sich die Demütigung in der Kreditabteilung ersparen können. Durch die plötzliche Schroffheit der Mutter erschien mir der Schuhkauf wie eine Ausschweifung, die eigentlich nicht zu verantworten war. Durch die Einfühlung in die Mutter stieg in mir etwas empor, was bis heute sein Rätsel nicht verloren hat: die schuldhafte Freude. Ich mußte verheimlichen, daß ich das Leben nicht verstand. Um mich wieder schuldfrei freuen zu können, faßte ich meine Mutter an der Hand und streichelte sie. Oft war ich damit erfolgreich. Durch das Anfassen ihrer Hand war meine Bereitschaft, ihre Scham, ihre Melancholie und sogar ihren Ärger zu teilen, plötzlich öffentlich geworden. Meine Mutter war so stark gerührt, daß sie wieder freundlich wurde. Erst dadurch schien meine Freude genehmigt zu sein und ließ mein Kinderglück zwischen ihr und mir hin- und herströmen.
Es strömt manchmal bis heute. Ich bin durch die Erinnerung guter Laune geworden, was sich zum Beispiel darin ausdrückt, daß ich die beiden schon ausgelegten Papierservietten wieder entferne und durch festlich weiße Stoffservietten ersetze. Außerdem stelle ich zwei Weingläser auf und öffne in der Küche eine Flasche Wein. Traudel braucht noch eine Weile, so daß ich jetzt doch noch dusche und frische Unterwäsche anziehe. Beim Abendessen will ich Traudel von der Scham in der Kreditabteilung erzählen, aber dann kommt doch alles ganz anders. Ich will über der Unterwäsche den Bademantel tragen, fasse aber versehentlich nach meinem schwarzen Wintermantel (er hängt an der Garderobe neben dem Bademantel), ziehe ihn über und setze mich in diesem an den Abendbrottisch. Traudel schaut mich halb verwirrtund halb entsetzt an und fragt dann: Willst du noch einmal weg oder was?
Ich erhebe mich, gehe um den Tisch herum, legen einen Arm um Traudels Schultern – und merke dabei, daß ich zwar frisch geduscht, aber im Wintermantel am Tisch sitze.
Oh! stoße ich einfallslos hervor, lege den Mantel ab und schlüpfe in den Bademantel. Ich rede undeutlich über meine Verwirrtheit, die mir Traudel (dieses Gefühl habe ich) nicht recht abnehmen will.
So etwas merkt man doch, sagt sie.
Ich pflichte ihr bei und habe dennoch keine weiterführenden Erklärungen. So senkt sich ein Schatten über unseren schön gedeckten Tisch, nein, kein Schatten, sondern vielleicht etwas Bösartigeres, ein Moment der Unverstehbarkeit, dem wir (jeder für sich) stumm und abgesondert nachsinnen müssen. Ich strenge mich an, liebenswürdig zu erscheinen und irgendwelche Schnurren aus meinem Leben zu erzählen, aber ich komme nicht gegen das Gespenst an, das an diesem Abend nicht
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