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Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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von unserem Tisch weichen will.
    Drei Tage später reicht mir Traudel einen kleinen Zeitungsausschnitt, ein Stellenangebot. Eine Wohnungsbaugesellschaft sucht einen Allrounder für die »Bereiche Haus, Garten, Keller, Garagen, Heizung, Hofreinigung«. Kenntnisse »im Bereich Hausverwaltung erwünscht, aber nicht Bedingung«. Ein Elektriker und ein Installateur stehen ganztägig zur Verfügung. »Sie haben zunächst circa dreihundert Wohneinheiten mit einem jährlichen Zuwachs von rund 100 Einheiten zu betreuen. Führerschein Kl. II unerläßlich. Richten Sie Ihre Bewerbung bitte an ...«
    Der Zeitungsausschnitt belastet mein Gemüt. Es sieht aus, als hätte Traudel Angst, ich könnte auf Dauer arbeitslos bleiben wollen, vielleicht ein bißchen mit Absicht, weil sie genügend Geld verdient. Vielleicht ist es auch nur das WortAllrounder, von dem eine Verfinsterung ausgeht. Hinter Allrounder verbirgt sich ein Handlanger, den man früher Hausmeister genannt hat, und das wäre die schlichteste Lösung, die mir das Schicksal zuweisen kann. Ich stecke den Zeitungsausschnitt ein und stelle mich an das Fenster unseres Hofzimmers. Ich will nur einem kleinen Insekt dabei zuschauen, wie es langsam in diagonaler Richtung die Fensterscheibe überquert. In der rechten unteren Fensterecke angekommen, läuft es nach oben weiter, immer an der Innenseite des Rahmens entlang. In der oberen Fensterecke verharrt das Tier und regt sich nicht mehr.
    Wie ein Mensch! denke ich begeistert. Man legt lange Strecken zurück, bis man erkennt, weiteres Umhergehen wird ergebnislos bleiben, also läßt man sich nieder und ersetzt das Umhergehen durch Umherschauen. Nach einer Weile betrachte ich erregte Amseln, die an Mülltonnen entlanghüpfen und sich gegenseitig verfolgen oder nach Nahrung suchen. Immer wieder stellen Mieter große Kartons neben den Mülltonnen ab, die von der Müllabfuhr nicht entsorgt werden. Die Mieter sind verpflichtet, die Kartons selbst zu zerkleinern und die Kartonstücke in die Papiertonne zu stecken. Erst nach etwa einer Minute merke ich, daß ich soeben den Gedanken eines Allrounders gedacht habe. Ich hebe den Blick und betrachte den merkwürdig gelben Abendhimmel.

Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
NEUN
    Nicht weit von mir in der U-Bahn sitzen ein Mann und eine Frau. Beide säubern ihre Kleidung. Der Mann beugt sich mit dem Oberkörper tief nach unten und klopft sich auf die Hosenbeine. Die Frau wischt sich Krümel und Staubflusen von der Bluse herunter, und zwar mit so heftigen Bewegungen, daß ich gerne zu ihr sagen würde: Rücken Sie Ihrer armen Brust doch nicht so stark zu Leibe! Ich selbst habe mich von Traudel überreden lassen, heute meinen Anzug anzuziehen. Die chemische Starre des Anzugs ist so dominant, daß ich mich nicht recht bewegen kann. Eine Frau zieht sich einen Plastikhandschuh über und hebt den Scheißhaufen ihres Hundes auf. Das heißt, sie fügt dem öffentlichen tierischen Scheißen nachträglich die sittliche Verheimlichung des menschlichen Scheißens zu. Ich bin mal wieder enorm schlau. Sogar ein Hundescheißhaufen genügt mir, um mir selbst meinen jederzeit losbeißenden Intellekt vorzuführen. Ich bereite mich, so gut es geht, auf das Bewerbungsgespräch bei der Wohnungsbaugesellschaft Kreditbau vor. Das heißt ich überlege, ob ich mich als bildungsverliebten Einzelgänger darstellen soll, der von Anfang an gewußt hat, daß das Philosophie-Studium gesellschaftlich wertlos ist. In Wahrheit bin ich ein durch und durch praktischer Mensch, werde ich sagen. Danach könnte ich ein bißchen die Universitäten und das Bildungssystem beschimpfen. Die Hochschulen bilden sowieso zu viele Leute aus, die hinterher niemand brauchen kann, werde ich sagen. Das kommt immer gut an. Aberwahrscheinlich werde ich mich ohnehin falsch benehmen, das ist jedenfalls meine momentane Furcht. Das Problem ist: Ein Mann meines Alters sollte sich nicht mehr bewerben müssen. Die Kreditbau liegt in einem wirren Industriegelände, das heißt inmitten von Maschinenfabriken, Möbelhäusern, Reifenlagern, schmuddeligen Vereinsheimen und großer Parkplätze für Tanklastzüge und Sattelschlepper.
    Ich treffe pünktlich im Sekretariat ein und werde sofort weitergeleitet in das Büro von Herrn Wendt. Er sitzt vor einer Tafel mit Bauplänen und bittet mich, Platz zu nehmen.
    Haben Sie schon einmal in einer Hausverwaltung gearbeitet?
    Ich verneine.
    Das macht nichts, sagt Herr Wendt, Sie

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