Das Glück in glücksfernen Zeiten
entlassen. Merkwürdig ist, daß mich kein Kollege wegen irgend etwas anspricht. Das verstärkt meinen Verdacht, daß sie alle Bescheid gewußt haben. Einer von ihnen hat mich offenbar beobachtet und verpfiffen. Vermutlich hatte Eigendorff einen Grundverdacht gegen mich und beauftragte jemanden mit meiner Observation. Aber eigentlich will ich nicht wissen, wer mir auf den Fersen war. Noch merkwürdiger ist, daß auch ich niemanden ansprechen will. Ich verstaue ein paar Kleinigkeiten, diesich in der Schublade meines Schreibtischs befinden, in einer Plastiktüte. In einem kleinen Umschlag finde ich ein einzelnes Schamhaar von Traudel, das ich vor langer Zeit hier deponiert habe. Ich weiß, daß mich das Schamhaar tröstet, und schiebe es mir in den Mund. Auch jetzt geht wieder ein Trost von ihm aus, den ich nicht beschreiben kann. Mit der Zunge schiebe ich das Schamhaar in der Mundhöhle hin und her und betrachte dabei das sich im Wind aufbäumende und dann niederstürzende Stück Dachpappe auf der Autogarage. Es ist erstaunlich (es ist nicht erstaunlich), daß die Bewegungen des Schamhaars und die Bewegungen der Dachpappe eine wunderbare Duldsamkeit in mir hervorrufen, in der ich den quälenden Tagesrest in der Großwäscherei großmütig überlebe. So pünktlich wie sonst selten – um 17.00 Uhr – erhebe ich mich, nicke einzelnen Kollegen kurz zu und verlasse das Büro. Ein einziger letzter Blick gilt meinem leergeräumten, jetzt verlassenen Schreibtisch.
Es paßt zu diesem Tag, daß mir etwa zwanzig Minuten später in der Nähe der Paulskirche Marlene Poscher über den Weg läuft. Es hat keinen Sinn, sie zu grüßen, denn Marlene Poscher hat mich vergessen, was für mich eine Erleichterung sein sollte. Aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie mich tatsächlich vergessen hat, und in dieser Ungewißheit liegt das peinigende Moment. Gegen Marlene Poscher habe ich mich vor etwa zwanzig Jahren unhöflich benommen. Damals saßen wir in einem geschichtsphilosophischen Seminar von Professor Schneidereit. Ich war schon fünfzehn Minuten vorher gekommen, als Marlene Poscher, die schon damals dauerbleich, häßlich, von klobigem Körperbau und fast unüberwindbar schüchtern war, den Raum betrat. Sie sah mich und grüßte mich auf so freundliche, charmante Art, daß es ihre übrigen Nachteile momentweise aufhob. Ich aber befand mich damals in einer entsetzlichen Phase der Selbsteinschüchterung,fühlte mich chancenlos, lebensfremd und im tiefsten Inneren talentlos und leer – und wurde ausgerechnet von der unattraktivsten Studentin des philosophischen Seminars begrüßt. Ich verwandelte mich in einen öffentlich herumliegenden Eisblock, grüßte nicht zurück, blickte sogar gepeinigt zur Seite. Leider fand ich auch später nicht die Kraft, auf Marlene Poscher zuzugehen und mein Fehlverhalten vergessen zu machen. Ich weiß nicht warum, bis heute nicht. Marlene Poscher sah mich nie mehr an und grüßte mich nie wieder. Seit ungefähr zwanzig Jahren habe ich das Bedürfnis nach einer Entschuldigung, die immer unmöglicher wird, je länger sie nicht geschieht. Mein Bedürfnis ist heute unnötig und lächerlich, weil Frau Poscher (so nenne ich sie in meinem Inneren) sich nicht mehr an mich erinnert. Oder sie erinnert sich doch und sagt jetzt zu sich selbst: Da kommt wieder diese Null von damals und wird immer nulliger, womit sie, am Tag meiner fristlosen Entlassung, nicht so ganz unrecht hätte. Frau Poscher geht an mir vorbei. Sie hat mich, wie erwartet, nicht wiedererkannt, oder sie hat mich, wie erwartet, wiedererkannt. Es zieht ein Schauder durch mich hindurch. Ich fühle mich erkannt, beschämt und hilfsbedürftig, aber ich kaufe mir nur eine Zeitung. Ich fühle mich privilegiert, weil mir niemand Vorwürfe macht. Wie wunderbar ist es, daß kein Mensch seine Schuld öffentlich zeigen muß. Wie entsetzlich ist es, daß jeder Mensch seine Schuld in seinem Inneren jeden Tag anschauen muß. Traudel wird, wenn ich heute abend von meiner Entlassung berichte, vermutlich kein Aufhebens machen. Mein geringes Betroffensein paßt zu der Nichtswürdigkeit des verlorenen Jobs. Trotzdem entspricht meine Wurschtigkeit nicht ganz den Tatsachen. Immerhin empfand ich in der Großwäscherei eine merkwürdige Geborgenheit, die meinen Hohn nicht verdient. Im Gegenteil; ich weiß, wie schwer ich mich damittue, überhaupt Geborgenheit zu empfinden. Ich weiß nicht, warum in diesen Augenblicken der Beginn eines weiteren schrecklichen
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