Das Glück in glücksfernen Zeiten
Erlebnisses meinen Tag verdüstert. Am oberen Ende einer Rolltreppe wird die Gestalt einer älteren Frau sichtbar. Sie stolpert und fällt hin. Ihre Einkaufstasche liegt einen Meter von ihr entfernt, ihre Brille ist unter den Körper geraten. Ich stürze auf die liegende Frau zu und will ihr aufhelfen. Im Eifer verliere ich für einen Augenblick die Übersicht und trete der Frau auf ihre am Boden liegende linke Hand. Die Frau schreit und beginnt zu weinen. Es gelingt mir, die Frau von hinten unter den Achseln zu fassen und hochzuziehen. Ein anderer Mann klopft der Frau den Straßenschmutz vom Rock. Haben Sie sich verletzt, fragt der Mann zweimal. Die Frau nimmt schon auf mich Rücksicht, untersucht nicht die von mir malträtierte Hand und sagt: Vielen Dank, Gott sei Dank nicht. Ich beneide den anderen Mann um seinen routinierten Umgang mit dem Unglück. Ich rede von den Rätseln des Ungeschicks und merke gleichzeitig, daß meine Formulierung treffend wäre, wenn sie in einem Buch auftauchte, aber jetzt, hier in der Wirklichkeit, als unpassend, wenn nicht als überheblich erscheint. Die Frau redet mit dem später hinzugetretenen Mann, nicht mit mir. Der Mann hebt die Brille der Frau vom Boden auf und stellt fest, daß die Brille halb zerbrochen ist. Die Frau nimmt auch die vermutlich unbrauchbar gewordene Brille entgegen und verstaut sie in der gleichfalls von dem anderen Mann aufgehobenen Tasche. Ich mache mir Vorwürfe, daß ich weder die Brille noch die Tasche aufgehoben habe. Diese ins Leere gehende Fürsorge ist ganz typisch für mich. Deswegen komme ich mir jetzt oberflächlich, halb zerfleddert und nichtswürdig vor. Mir paßt nicht, daß ich erschöpft und müde bin, obwohl ich nicht gearbeitet habe. Ich bin in keiner guten Heimkehr-Verfassung, aber ich habe genug von denEinzelheiten ringsum und mache mich auf den Weg. Traudel wird sofort merken, daß etwas nicht stimmt. Es steigt die Stimmung eines Schülers in mir hoch, der vor kurzem erfahren hat, daß er nicht versetzt wird. Es gefällt mir nicht, daß ich als Erwachsener bloß ein Schülergefühl zustande kriege. Ich habe insofern Glück, als Traudel noch nicht zu Hause ist, als ich die Wohnung aufschließe. Ich betrete das Wohnzimmer und sehe plötzlich meine noch immer auf dem Balkon hängende Hose. Im stillen lobe ich Traudel, weil sie sich in mein Hosenexperiment bis jetzt nicht eingemischt hat. Aber jetzt öffne ich die Balkontür und hole meine Hose in die Wohnung, bürste sie im Bad aus und hänge sie in den Kleiderschrank. Als Traudel die Wohnungstür öffnet, sitze ich in der Küche und schäle eine Birne. Traudel merkt sofort, daß etwas nicht stimmt. Wahrscheinlich liegt es daran, daß ich eine Birne schäle. Das mache ich sonst nie.
Traudel grüßt und fragt spitz in die Küche: Ist was passiert?
Ich versuche eine stumme Leugnung, aber sie mißlingt mir.
Traudel sagt: Soll ich raten?
Ist nicht nötig, sage ich jetzt doch, ich bin rausgeschmissen worden.
Oh, macht Traudel, das hatten wir noch nicht.
Ich versuche, so gut ich kann, die Entlassung herunterzuspielen, aber der Versuch mißlingt.
Ist es schlimm für dich?
Nöö, sage ich, es ist, als hätte ich einen Studentenjob verloren.
Aber es war doch schon eine halbe Lebensstellung, sagt Traudel.
Dazu schweige ich.
Warum haben sie dich gefeuert?
Ich habe den Job nur deswegen so lange ausgehalten, weil es leicht war, freie Zeit herauszuschinden.
Und dabei haben sie dich erwischt?
Ja.
Das Herumlungern bei der Demonstration werde ich nicht zugeben, überlege ich, aber Traudel fragt nicht weiter. Sie stellt ihre Einkaufstüten ab und packt die Sachen aus, mit denen sie gleich ein Abendbrot zubereiten wird.
Machst du dir Sorgen? fragt sie.
Nicht wirklich, sage ich, wenn ich von einer gewissen Grundsorge einmal absehe.
Grundsorge? Davon hast du nie gesprochen.
Von Zeit zu Zeit gehe ich immer mal wieder ins Philosophische Seminar und setze mich irgendwo hin. Und warte darauf, daß ein Akademischer Rat oder sonstwer auf mich zukommt und sagt: Gut, daß Sie gekommen sind. Wir wollten Sie sowieso anrufen. Wir würden Ihnen gerne eine Professur anbieten.
Ist das wahr? fragt Traudel.
Ja.
Das hast du mir nie gesagt.
Weil es mir peinlich ist, sage ich.
Und warum sagst du es jetzt?
Die Gelegenheit für Geständnisse ist günstig, sage ich.
Traudel lacht und umarmt mich. Dadurch löst sich die Anspannung. Ich bin froh, daß ich wenigstens eine Teilwahrheit gestanden habe. Ich habe so
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