Das Glück in glücksfernen Zeiten
einem anderen Säugling verwechselt worden und sei deshalb den falschen Eltern in die Hände gefallen. Jahrelang plagte mich der Gedanke, meine richtigen Eltern suchen zu müssen, bis ich endlich während des Studiums (und damit:zu spät) erfuhr, daß es sich bei der Vertauschungsidee um eine weitverbreitete pubertäre Zwangsvorstellung handelt, die sich in der Adoleszenz von selbst wieder auflöst. Bei mir hat sich nichts aufgelöst, im Gegenteil, bei mir wird alles hart und fest. Noch heute denke ich zuweilen, wenn ich attraktive Rentner sehe: Da sind meine Eltern! Endlich habe ich sie gefunden!
Noch immer habe ich keine Idee, wie ich Traudel beibringen soll, daß ich für den Beruf des Allrounders nicht geeignet bin. Es herrscht ein totes, schwitzendes Wetter mit feuchten Hochnebeln über den Dächern und übertrieben stinkenden Motorrädern auf den Straßen. Ich betrachte ängstliche Alte, die sich auch an einem Sommertag zu warm anziehen. Das heißt, nach ein paar Minuten habe ich den Einfall, daß sich die Alten ihres Mangelkörpers schämen und ihn deswegen folienmäßig dicht verpacken. Natürlich will ich mich nicht über alte Leute lustig machen, ganz im Gegenteil. Manchmal möchte ich selber gern am Arm einer alten Frau durch die Stadt gehen, aber ich weiß nicht, wie ich diesen Wunsch in Wirklichkeit umsetzen soll. Ich bin auch nicht wirklich an alten Menschen interessiert, ich will bloß der Unmöglichkeit des Lebens manchmal ein bißchen näher sein als sonst. Obwohl ich immer noch keinen Hunger habe, plagt mich die Fadheit im Mund. Die Stare quietschen noch immer in den Bäumen. Wie nie ermüdende Spieluhren ziehen sie sich selber auf und lassen ununterbrochen ihr Geräuschband ertönen. Ich komme an einem sogenannten Vergnügungscenter mit drei Kinos vorbei und überlege, ob ich mir eine Eintrittskarte kaufen und für zwei Stunden dem Stadtlärm entkommen soll. Das erste Kino zeigt einen amerikanischen Sciencefiction-Film, das zweite einen amerikanischen Gangsterfilm, das dritte einen amerikanischen Horrorfilm. Alle drei Filme will ich nicht sehen, obwohl ich nichts gegen amerikanischeFilme habe. Wenn wir den amerikanischen Klump nicht hätten, dann hätten wir einen anderen Klump, womöglich einen deutschen, und der wäre nicht besser als der amerikanische. Aus Ratlosigkeit gehe ich zum nahen Flußufer, wo ich schon lange nicht mehr war. Ich schaue nach Müttern mit kleinen Kindern und warte auf eine Katastrophe. Das heißt ich spekuliere damit, ob nicht ein Kind plötzlich seiner Mutter davonläuft und geradewegs in den Fluß fällt. Dann nämlich wäre ich zur Stelle, würde mich ins Wasser stürzen und das Kind retten. Die Mutter wäre überglücklich, wenn sie ihr entsetztes und schreiendes, aber lebendes Kind zurückerhielte, die Polizei würde kommen und dem Kind und mir je eine trockene Wolldecke geben, ein Reporter würde erscheinen und die Mutter und mich interviewen und uns zu dritt fotografieren. Für einen Tag wäre ich ein liebenswerter und vorbildhafter Mitmensch, der am Ende des Jahres noch dazu die Lebensretter-Medaille bekäme. Tatsächlich aber bin ich ein ideenloser Spaziergänger, der noch immer nicht weiß, was er gegen die Fadheit im Mund unternehmen soll. Außerdem habe ich inzwischen den Verdacht, daß die Fadheit im Mund nichts weiter ist als ein Ausdruck für die Fadheit meines ganzen Lebens, die in ihrer Totalität zum Glück nicht mehr dargestellt werden kann, sondern nur noch in solchen verwischten Augenblicken aufblitzt.
Ich werde jetzt auf der Stelle entweder ein Glas Wein trinken oder mir ein Eis oder eine Tüte Popcorn oder eine Bockwurst mit Brötchen kaufen. Aus Bequemlichkeit entscheide ich mich für eine Bockwurst, weil ich nicht weit von hier eine Würstchenbude sehe, an deren Theke gerade niemand ansteht und wartet. Die Brötchen sind alle, sagt die Verkäuferin und legt eine Scheibe Schwarzbrot auf den für mich bestimmten Pappdeckel. Die Bockwurst ist warm, tatsächlich verschwindet innerhalb einer Minute endlich die Fadheit imMund. Das Brot mag ich nicht, es bleibt unangefaßt auf dem Pappdeckel zurück. Ich betrachte es eine Weile, schließlich schiebe ich die Scheibe in die linke Innentasche meines Anzugs. Ich warte darauf, daß mir ein bedürftiger Bekannter über den Weg läuft, dem ich überraschend eine Scheibe Brot überreichen könnte. In wenigen Augenblicken wäre ich (bin ich) dann wieder ein liebenswerter und vorbildhafter Mensch. Aber es kommt
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