Das Glück in glücksfernen Zeiten
viele Probleme, daß ich praktisch jeden Tag Geständnisse machen könnte. Das lebensgeschichtlich tief sitzende Unbehagen, daß ich mich von der Philosophie, der Bildung und meiner Eitelkeit habe narren lassen, ist bis heute zwischen Traudel und mir nicht besprochen worden. Das noch viel tiefer sitzende Problem, daß ich inzwischen von meiner peinigenden Selbstüberschätzungweiß, ist praktisch unaussprechlich. Jedesmal, wenn ich es sagen will, würgt mich die Scham. Traudel gegenüber tue ich so, als wäre in mir ein bedeutender Philosoph verlorengegangen. Ich merke, daß Traudel sich in diese Versagung einfühlt und mitempfindet. Eine andere, mich ebenso stark bedrängende Sorge ist meine fundamentale Unruhe. Ich meine damit ganz wörtlich die Unmöglichkeit, längere Zeit einer Beschäftigung in einem Raum nachzugehen. Ich verhülle, oft mit erheblicher Anstrengung, daß ich es nirgendwo lange aushalte. Kaum bin ich im Büro, will ich wieder nach draußen. Bin ich endlich draußen, will ich zurück in einen geschlossenen Raum. Bei Traudel halte ich es oft nur aus, weil ich (gegen meinen Willen) lange fernsehe. Traudel sitzt dabei oder sitzt nicht mit dabei. Ich schaue mir fast alles an, was lange dauert, Boxkämpfe, Reitturniere, Diskussionen. Ich weiß von vielen Menschen, denen es ähnlich ergeht. Das Fernsehen nützt die Not der Menschen skrupellos aus. Meine Zwiespältigkeit macht mir das Fernsehen besonders verhaßt. Ich bin erst seit ungefähr einer Stunde zu Hause, und obwohl ich mich in unserer Wohnung aufhalte, komme ich mir vor wie in einem Altersheim und möchte fliehen. Wahrscheinlich schalte ich in Kürze den Fernsehapparat ein. Meine Unruhe richtet sich nicht gegen Traudel, sondern (vermutlich) gegen den Raum, in dem ich mich immer gerade aufhalte. Ich würde gern beschreiben können, was an den Räumen die Beklemmung auslöst. Bis jetzt bin ich in dieser Hinsicht erfolglos. Meine Denkkraft reicht nicht aus, die Beklemmung der Räume begrifflich zu fassen. Nichts ist grausamer als die Entdeckung, im entscheidenden Augenblick ein sprachloser Philosoph zu sein. Wie so oft packt mich dann die Sehnsucht nach grenzenlosem Unterwegssein, obwohl ich weiß, daß auch das Nomadenleben eine Schimäre ist. Was von all dem übrig bleibt, ist das hörbare Knisternverschlissener Illusionen; sie rascheln im Kopf wie zu oft benutztes Einwickelpapier.
Traudel bereitet einen Salat vor, der hübsch ausschaut und sehr gut schmecken wird. Außerdem hat sie zwei kleine Steaks zurechtgemacht, die sie in die Pfanne legen wird, wenn sie mit dem Salat fertig ist. Eigentlich wollte ich duschen, aber jetzt decke ich den Tisch. Ich nehme an, im Tischdecken drückt sich eine diffuse Dankbarkeit dafür aus, daß ich schon wieder um eine Diskussion meiner verkorksten beruflichen Lage herumgekommen bin. Ich weiß nicht, warum mir während des Tischdeckens Erinnerungen an meine Kindheit einfallen. Ich sehne mich plötzlich nach den damaligen Schuhgeschäften. Dabei entsteht momentweise das Gefühl, ich hätte eine schöne, harmonische Kindheit gehabt. In Wahrheit war es so, daß meine Mutter mit mir vor dem Kauf der neuen Schuhe die Kreditabteilung des Kaufhauses im obersten Stockwerk aufsuchen mußte. Dort legte man ihr einen Antrag für einen Kleinkredit vor. Ich saß auf der Seite auf einem Stuhl, wo noch andere Kinder warteten, deren Mütter ebenfalls Kreditanträge ausfüllten. Damit der Kleinkredit genehmigt werden konnte, mußte meine Mutter eine Verdienstbescheinigung ihres Ehemannes vorzeigen, die sie in ihrer Handtasche mitgebracht hatte. Die Kreditsachbearbeiterin nahm die Verdienstbescheinigung und rief die Lohnbuchhaltung der Firma an, bei der mein Vater arbeitete, um zu überprüfen, ob die Angaben der Verdienstbescheinigung der Wahrheit entsprachen. Das taten sie, aber damit war die Kreditsachbearbeiterin noch nicht zufriedengestellt. Sie verlangte jetzt meinen Vater zu sprechen; sie fragte ihn, ob es in Ordnung sei, daß seine Frau einen Kleinkredit aufnehme, um für mich ein Paar Schuhe zu kaufen. Ich war acht oder neun Jahre alt und verstand kaum, was sich ereignete, merkte mir aber die Details. Das heißt ich sah, daß meineMutter sich schämte. Das Fräulein hinter dem Tresen überprüfte in ähnlicher Weise auch die Kreditangelegenheiten der anderen Frauen. Bis auf den heutigen Tag löst die Gruppenentblößung in der Kreditabteilung Schauer und Schrecken aus. Ich fühlte, daß ich mit meiner Mutter
Weitere Kostenlose Bücher