Das Glück in glücksfernen Zeiten
lernen das ganz schnell; ich nehme an, Sie haben schon in verschiedenen Berufen gearbeitet?
Ich nicke.
Das ist ein gutes Zeichen, sagt Herr Wendt. Sie sind oder Sie wären eher in der Verwaltung tätig als in den Objekten selber. Wir unterhalten Wohnprojekte in sieben Vororten (er zählt deren Namen auf), für jedes Projekt gibt es einen örtlichen Hausmeister, den Sie zu beaufsichtigen und dessen Arbeit Sie zu koordinieren hätten.
Herr Wendt führt aus, daß die Kreditbau auch in den Wohnungsbau des Ostens »eingreift«, die Firma ist glücklich, daß ihr das gelungen ist.
Das ist ganz wichtig! Weil wir dadurch Anteil haben am Wiederaufbau des Ostens, das ist wie damals im zerstörten Westdeutschland vor sechzig Jahren, sagt Herr Wendt.
In mir wächst langsam und umständlich die Gewißheit, daß ich den von Herrn Wendt angebotenen Job nicht haben will. Ich suche nach Einzelheiten, die mir an Herrn Wendt nicht gefallen. Zum Beispiel entdecke ich Mohnkörner zwischenseinen Zähnen. Wenn Herr Wendt den Kopf senkt, erscheint sein Doppelkinn. Ich bin, wie so oft, aufmerksam und gleichzeitig schwer von Begriff. Hoffentlich erkennt Herr Wendt die dahinter lauernde Komplexität meines Temperaments. Gleich werde ich meine Promotion verunglimpfen. Ich bin meiner eigenen Intelligenz entfremdet, werde ich sagen. Sie können genausogut einen flotten Abiturienten oder einen gewöhnlichen Betriebswirt einstellen, damit werden Sie besser bedient sein. Aber dann sagt Herr Wendt:
Uns ist wichtig, daß Sie intelligent führen und auf Probleme schnell reagieren, wobei wir davon ausgehen, daß jemand, der promoviert hat, seine Intelligenz zu nutzen versteht.
Es ist fraglich, ob ich nach diesem Satz überhaupt noch irgend etwas sagen kann. Herr Wendt hält seine Bemerkung für einen Treffer und lächelt mich kollegenmäßig an. Mir ist klar, daß ich meine Promotion jetzt nicht mehr herunterspielen kann. Genaugenommen habe ich keinen Einfall mehr, wie ich meine Chance verkleinern könnte. Aus Ratlosigkeit fange ich an, meinen Vater nachzuahmen, das heißt ich lasse meine Schultern hängen und falte die Hände über dem Hosengürtel. Ich bilde die Sprechweise meines Vaters nach, das heißt ich bringe meine Sätze nicht zu Ende und fange immerzu neue Sätze an, die ich auch nicht zu Ende bringe. Meine Zusammengesunkenheit ist so deutlich geworden, daß ich schon fast einen Buckel mache. Ich muß aufpassen, daß ich nicht in eine Parodie abgleite. Das Unannehmbare und das Wirkliche an mir erscheinen plötzlich als ineinander verwachsen beziehungsweise verklammert, eine Art Peinigung. Wenn ich mich nicht irre, entgeht Herrn Wendt diese Peinigung nicht. Er scheint sich zu fragen, warum er schon so lange an mich hinredet. Jedenfalls kommt er jetzt rasch zum Ende und sagt, daß ich von ihm hören werde. Das heißt, daßich aufstehen und gehen darf, was ich angemessen kleinlaut auch tue.
Ich bin froh, daß ich die Kreditbau verlassen darf und wahrscheinlich nie wieder aufsuchen werde. Ich überlege, ob ich nach Hause fahren und meinen Anzug ablegen soll, komme aber wieder davon ab. Mein einziger Wunsch für die nächsten zwei Stunden ist: Ich will nicht angestrengt gehen, nicht viel und nicht laut sprechen und auf keinen Fall denken. Ich steige in die Bahn und fahre zurück ins Zentrum. Als ich anfange, mir für Traudel eine Begründung zu überlegen, warum ich nicht Allrounder werden will, ermahne ich mich: Du wolltest nicht denken. Das Angenehme an meinem Grauen ist, daß sich meine Innenwelt mehr und mehr vor die Außenwelt schiebt und daß mich unter dem Eindruck dieser Verschiebung die Außenwelt immer weniger interessiert. Es durchflutet mich ein angenehmes Gefühl des Entkommenseins. Es kann nicht mehr lange dauern, dann gefällt mir jeder Anblick. Ich laufe an einem Schnellrestaurant vorbei und lese das schöne Wort Tagessuppe. Das Wort ist mit der Hand und mit Kreide auf eine grüne Schiefertafel geschrieben, ein bißchen ungeschickt, wahrscheinlich von einem Lehrling, der nur knapp der Legasthenie entkommen ist. An meinem Spott merke ich, daß mich die Einzelheiten wieder in sich aufnehmen und mich dadurch heimisch machen. Das Wort Tagessuppe ist elementar, lebensaufrichtend und zukunftsweisend; es klingt friedlich wie Suppe des Tages, in der wir alle schwimmen, es klingt wie göttlicher Trost und ewige Jugend. Ich erinnere mich, in meiner Jugend habe ich nach deprimierenden Erlebnissen geglaubt, ich sei nach der Geburt mit
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