Das Glück in glücksfernen Zeiten
zu mir herüber: Ich bin zu schwach, um mir eine neue Wohnung zu suchen. Der Satz gefällt mir, ich schaue in das Gesicht der Frau, die ihn gesagt hat. Es ist Frau Dr. Petzold, eine Kunsterzieherin und gescheiterte Künstlerin, die an gelegentlichen paranoiden Schüben leidet. Sie gehört zu einer Gruppe von Patienten, die demnächst ein Rockkonzert (mit Tanz) besuchen will. Frau Dr. Petzold hat mich schon gefragt, ob ich mitgehen werde, ich habe mich (wie üblich) abwartend-zwiespältig verhalten. Wahrscheinlich werde ich nicht mitgehen. Mit populärer Musik kann ich nichts anfangen, im Gegenteil, ich halte sie für ein Symptom des verstümmelten Kleinbürgertums. Depressionen und Erlebnishysterie gehören zusammen, habe ich dieser Tage zu Frau Dr. Petzold gesagt und habe den Satz sofort bereut, weil er einen Teil meines Krankheitswissens verraten hat. Meine Verbindung zu Traudel hängt derzeit an einem seidenen Faden. Die Frau, mit der ich so lange zusammengelebt habe, verwandelt sich zur Zeit in einen sonderbaren Gast meines Lebens. In derTiefe meiner Empfindung verharrt ein Groll, der taub und stumm ist und nicht mit sich reden lassen möchte. Wer einmal geliebt hat und immer noch liebt, der weiß auch, wie schwierig es war und wie lange es gedauert hat, sich für die Liebe überhaupt geeignet zu machen. Diese Liebesarbeit ist es, von der man im Schmerz bemerkt, daß man sie nicht so einfach wiederholen kann. Aus dem Schmerz geht eine Art Liebesarbeitsscheu hervor. Der Geschmerzte muß plötzlich fürchten, eine schwere Arbeit vielleicht doch umsonst getan zu haben. Es paßt mir nicht, daß ich so kurz vor dem Eintreffen von Traudel derart schwerwiegende Gedanken denke. Vermutlich deswegen überfallen mich jetzt Trauer und Bitterkeit. Ich versuche, ein paar schlichte Sätze zu denken, zum Beispiel diesen hier: Es sollte nicht nötig sein, daß um des Glückes willen ein solcher Kampf stattfindet.
Aber ich kann nicht absichtlich schlicht denken, ohne gleichzeitig an Übelkeit zu leiden. Weil ich mir nicht mehr anders zu helfen weiß, gehe ich nebenan ins Fernsehzimmer. Es gibt dort immer ein paar Hilflose, die sich schon morgens Filme über irgend etwas anschauen. Ich setze mich so, daß ich durch das Fenster hindurch den Haupteingang im Auge habe. Es läuft ein Tierfilm über das Leben der Gnus in Afrika. Sie schlurfen in großen Rudeln durch die Wüste und sind immerzu von ihren Todfeinden umgeben, von Löwen und Hyänen. Die Unbesorgtheit der Tiere rührt mich. Sie stehen herum, schauen ihren Feinden ins Auge und suchen Nahrung. Die Augenblicke, wenn ein Löwe einem Gnu an den Hals springt und mit diesem schwer atmend zu Boden geht, haben Ähnlichkeit mit dem erschöpften Niedersinken des männlichen Kopfes nach einem Orgasmus. Der Vergleich irritiert mich vier Sekunden lang, dann stößt er mich ab. Da sehe ich, wie Traudel durch den Haupteingang hereinschmerzt. Es ist erkennbar, daß sie unter starkem Drucksteht, den ich nicht lindern werde, jedenfalls zunächst nicht. In den Augenblicken, als ich mich erhebe und in das Foyer hinausgehe, fühle ich mich vor den anderen Patienten privilegiert. Traudel erkennt mich und kommt mit lodernden Bewegungen auf mich zu. Sie trägt eine weiße Bluse und ihren cognacfarbenen Rock. Ihr dunkles, glatt herunterfallendes Haar wedelt leicht hin und her. Traudel sieht schön aus, sogar im Schmerz. Sie umarmt mich, was sie sonst nicht tut, wenn andere Menschen in der Nähe sind.
Ach, sagt sie.
Ja, sage ich.
Nah an meinem Gesicht entringt sich ihr ein Schluchzen. Es ist offenkundig, daß sie Reue empfindet. Wieder werde ich an das wichtigste Gefühl meiner Kindheit erinnert: daß ich schon im Alter von neun Jahren mit den zukünftigen Katastrophen vertraut war. Mein Leben würde nur darin bestehen, das Eintreffen der Desaster ruhig abzuwarten und ihre Verschmelzung mit meinem Leben zu beobachten. Ich bin erschüttert und kann nicht richtig sprechen. Wir setzen uns ein bißchen absichtslos in zwei über Eck beieinanderstehende Sessel und schauen uns an. Traudel beruhigt sich langsam. Sie öffnet ihre Tragetasche und zeigt mir die für mich bestimmte Unterwäsche, Hemden, Taschentücher, Strümpfe. Ich nicke dankend mit dem Kopf und fasse die Unterwäsche an, was ich sonst nie tue.
Ich bringe die Sachen nachher in mein Zimmer, sage ich.
Traudel nickt ebenfalls. Auch sie kann noch nicht sprechen. Wir beobachten eine junge Besucherin mit Kleinkind. Sie sitzt in einem anderen
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