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Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Schamproblematik, sagte ich.
    Der Therapeut war (vermutlich) verblüfft und schwieg. Ich weiß, sagte ich, daß der Patient, der sich als Fachmann seines Leidens präsentiert, für den Arzt ein Greuel ist. Der Therapeut schwieg weiter.
    Ich glaube nicht, sagte ich, daß Sie es schwer mit mir haben werden. Meine Innenwelt ist nicht sehr geräumig. Man kann mich schnell durcheilen und dann feststellen: Außer ein paar Schuldgefühlen und ein bißchen Scham ist nicht viel da.
    Der Therapeut machte sich jetzt Notizen.
    Von Jugend an, sagte ich, leide ich an der Zwangsvorstellung, durch mein Wissen verschont zu sein; mein Unglück zeigt sich gerade darin, daß ich glaube, auch dies noch zu wissen.
    Der Therapeut schien zu überlegen und sah aus dem Fenster.
    Ich war jahrzehntelang auf ein besseres Leben vorbereitet, sagte ich, das aber nie eintrat. Sehr lange habe ich sentimental und melancholisch herumgejammert, bis ich endlich bemerkt habe: Es wird erwartet, daß der Mensch zu seinem Unglück ein bloß abwartendes Verhältnis hat.
    Wieder machte sich der Therapeut einige Notizen.
    Dann sagte ich: Ich habe Angst, den Verstand zu verlieren.
    Vielleicht habe ich ihn schon verloren und bin deswegen hier. Jetzt fragte der Therapeut: Wie kommen Sie auf diese Idee?
    Daraufhin erzählte ich ihm, wahrscheinlich zu ausführlich, die Sache mit der Bockwurst und der Brotscheibe, die er noch nicht kannte. Danach war die Therapie-Stunde zu Ende. Ich nahm meine Zeitung und mein Buch und verließ das Zimmer des Therapeuten.
    Das Veilchenparfüm von Schwester Bianca in der Rezeption duftet bis zu mir herüber. Es könnte sein, daß ich Traudel auf Dauer nicht verzeihen kann. Ich fühle mich von ihrverraten. Verrat kann man nur ertragen, wenn man selbst derjenige ist, dem etwas verraten worden ist. Ist man dagegen das Opfer eines Verrats, kann man keinesfalls zu seinem Verräter zurückkehren. Der läppische Veilchenduft bringt mich auf den noch läppischeren Gedanken, daß ich mir möglicherweise eine neue Frau suchen muß. Dabei habe ich nicht die geringste Lust auf eine neue Frau. Vermutlich ziehe ich mich von den Demütigungen der Liebe zurück. Außerdem ist der periodisch auftauchende Gedanke an eine neue Frau ein entsetzliches Lebenslaufklischee, mit dem meine biografische Überheblichkeit nichts zu tun haben möchte. Obgleich in der Eingangshalle eine große Zahl bedrückter Menschen herumsitzt, ist das Allgemeine der Bedrückung kaum zu fassen. Das Bedrückende bedrückt jeden, das heißt das Bedrückende ist für jeden offenkundig in der Welt, gleichzeitig ist es wegen seiner Allgemeinheit belanglos und daher unsichtbar. Um zu wissen, was mit einem Menschen los ist, muß ich sein Gesicht nicht mehr anschauen. Ich habe immer schon vorher Mitleid. An diesen bösartig zugespitzten inneren Sentenzen bemerke ich meinen üblichen Drang, jede Situation jederzeit restlos zu durchschauen. Dabei will ich mich auch vom Delirium meiner Intelligenz befreien. Ich möchte nicht mehr ehrgeizig sein, das hat sich erledigt.
    Dr. Treukirch (das ist mein Therapeut) ändert alle drei Tage die Zusammenstellung und die Dosierung meiner Tabletten. Vermutlich bin ich nur hier, damit die richtige Medikation herausgefunden werden kann. Manchmal dämpfen mich die Medikamente zu stark, an anderen Tagen werde ich innerlich flirrig und nervös. Im Augenblick fühle ich mich fast angstfrei und entspannt, obgleich ich dem Zusammentreffen mit Traudel mit Unbehagen entgegenblicke. Vermutlich wäre es sinnvoll, wenn ich vor dem Mittagessen noch eine Stunde lang spazierengehen würde. Aber ich bin heutezu faul und gleichzeitig (wegen Traudels Besuch) zu erregt. Außerdem reagiere ich auf die Kleinstadt am Fuße der Klinik nicht gelassen. Wenn ich an den Schaufenstern von Miedergeschäften, Optikern und netten Metzgereien vorübergehe, ergreift mich nach kurzer Zeit das Gefühl, ein Teil der Bedrückung der Menschen entsteht durch die verlogene Verharmlosung des Lebens in den Schaufenstern. Als ich Kind war, hingen in den Metzgereien der Länge nach geöffnete Tierkörper, aus denen unten das Blut heraustropfte. Es genügte ein Blick in das Schaufenster, und jeder wußte, es geht jeden Tag um Leben und Tod. Wenn ich die in Boutiquen verwandelten Metzgereien sehe, werde ich wütend, daß nicht alle Menschen gleichzeitig empört sind. Und doch weiß ich, daß mein Affekt dumm ist und eines erwachsenen Menschen unwürdig. Vom Nebentisch dringt ein Satz einer Patientin

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