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Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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abzugeben. Ich setze mich auf einen anderen Stuhl, so daß die Passanten und die anderen Gäste nur noch meinen Rücken sehen.
    Jaja, sage ich.
    Es sind die ersten Worte, die ich wieder sagen kann. Zwischendurch glaube ich, mein Schluchzen habe aufgehört, aber dann kehrt es zurück und schüttelt mich noch einmal und noch einmal durch. Obwohl mein Mund trocken ist, traue ich mich nicht, nach dem Glas Wasser zu greifen. Nach etwa zwanzig Minuten sehe ich Traudel mit eiligen Schritten eine Straße überqueren. Sie kommt direkt auf mich zu. Annette nickt und geht, Traudel setzt sich neben mich.
    Du mußt nichts sagen, sagt Traudel.
    Das Schluchzen hat jetzt doch fast ganz aufgehört.
    Wollen wir gehen? fragt Traudel.
    Ich bin erschöpft, aber ich stehe auf. Wir verlassen die Terrasse und gehen zum Auto. Traudel bringt mich nicht nach Hause, sondern in eine etwa vierzig Kilometer entfernte Psychiatrische Klinik. Während der Fahrt spreche ich nicht. Ich höre dem leisen Weinen von Traudel zu.

Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
ZEHN
    Ich sitze in der großen Empfangshalle der Klinik und schaue den Putzfrauen zu, die mit breiten Besen den Boden wischen und sich Mühe geben, die Patienten nicht anzuschauen. Es ist kurz nach zehn. Vor etwa einer Stunde habe ich meine Tabletten eingenommen. Gegen zwölf wird Traudel eintreffen und mit mir im Patienten-Casino zu Mittag essen. Sie wird mir frische Wäsche mitbringen, vermutlich ein neues Hemd und ein oder zwei Bücher. Wahrscheinlich wird sie mit halb verweintem Gesicht die Eingangshalle betreten und mit ein wenig starren Bewegungen auf mich zukommen. Es tut ihr inzwischen leid, daß sie mich hierhergebracht hat, wozu ich vorerst schweige. Die ausgepumpten, nahezu reglos in den Sesseln ruhenden Patienten empfinde ich als schön. Ich spüre das langsame Eindringen der Tablettensubstanzen in mein Blut. Wenn ich in den Spiegel schaue, komme ich mir unverhältnismäßig gealtert vor. Ich war immer der Meinung, daß uns nicht die Lebensjahre alt machen, sondern unsere Erlebnisse. Daß ich einmal in eine Klinik eingeliefert werde, hätte ich niemals für möglich gehalten. Jetzt merke ich, wie mich dieses Erlebnis alt macht. In der Regel führen die Tabletten zu einer gewissen inneren Erleichterung. Der Nachteil ist, daß ich mich gleichzeitig wie verschleiert fühle. Es ist, als würde ich in einer mit Watte ausgeschlagenen Schachtel sitzen. Kurz nach meiner Einlieferung hat mich ein Arzt gefragt: Hören Sie Stimmen? Nein, habe ich geantwortet, ich höre immer nur mich. Sie hören sich? fragte der Arzt. Ichrede mit mir oder ich rede an mich hin, sagte ich. Ach so, sagte der Arzt, reden Sie laut mit sich? Nein, antwortete ich, ich rede leise in meinem Inneren mit mir. Ich betrachte die depressiven, autistischen und schizoiden Patienten um mich herum. Mein Trost ist, daß ich ein weniger schlimmer Fall bin. Ich habe meinen Therapeuten gefragt, wie lange ich hierbleiben werde. Das kommt darauf an, wie Sie sich entwickeln, antwortete er ausweichend oder nicht ausweichend. Ich werde so tun, als sei ich sicher, daß ich bald wieder nach Hause darf. Die Patienten ringsum lesen Zeitungen oder schreiben Briefe. Ich halte mich sowenig wie möglich in den Innenräumen der Klinik auf, um anderen Patienten nach Möglichkeit keine Chance zu geben, Gerüchte über mich zu erfinden. Ich bin erst eine Woche hier und kenne doch schon viele der kleinen Diskriminierungen, die über den einen und anderen Patienten in Umlauf sind. Über eine stark zwanghafte Chefsekretärin wird gespöttelt, daß sie täglich ihre Jeans bügelt. Jetzt betrachte ich ihre Jeans und stelle fest, daß sie tatsächlich messerscharfe Bügelfalten hat. Ich weiß nicht, warum mich der Anblick der Bügelfalten an meine Angst vor zukünftiger Einsamkeit erinnert. Gestern, während des Mittagessens, habe ich angefangen, ein paar meiner älteren Frauengeschichten zu erzählen. Ich habe das nur getan, weil ich nicht als verlassener Einzelgänger erscheinen wollte. Plötzlich verwendete ich das sonst nicht von mir gebrauchte Wort Liebschaften. Wegen plötzlich eintretender Wortfremdheit redete ich dann nicht mehr weiter. Die Einsamkeit stößt zu in dem Augenblick, wenn ich eine angefangene Mitteilung nicht vollenden kann. Vielleicht ist es auch umgekehrt. Vor drei Tagen fragte mich der Therapeut, ob ich sagen könne, woran ich leide.
    Ich leide an einer verlarvten Depression mit einer akuten

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