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Das Glück in glücksfernen Zeiten

Titel: Das Glück in glücksfernen Zeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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etwa zehn Minuten war der Säugling erschöpft vom Trinken und endlich ruhig. Vorsichtig legte Annette das Kind in den Wagen zurück und verstaute die gebrauchte Windel in einer Plastiktüte. Ich hatte das Fenster geöffnet, aber der Geruch nach Urin und milchigem Kot verschwand nicht so schnell. Annette war munter und guter Laune. Das Herumhantieren mit dem Kind war in ihren Augen auch ein erotisches Theater für mich, das seine Wirkung leider verfehlte. Ich saß überfordert auf dem Rand meines Bettes und wußte nicht, was jetzt geschehen sollte. Ich bemerkte, daß meine anfängliche Gier nichts als innere Einsamkeit hervorgebracht hatte, mit der ich genausowenig fertig wurde wie mit dem Kotgeruch. Annette zog Büstenhalter und Bluse nicht wieder an, sondern setzte sich neben mich und bog nach kurzer Zeit meinenOberkörper nach hinten auf das Bett. Mal starrte ich auf Annettes leer hängende Brüste, mal auf den Kinderwagen in der Mitte des Zimmers.
    Jetzt steht Annette mit leicht gerötetem Gesicht vor mir und gibt mir nicht die Hand. Der junge Mann an ihrer Seite ist wahrscheinlich der Säugling von damals.
    Dir geht es gut, sagt sie halb fragend.
    Ich glaube ja, antworte ich, worüber Annette ein wenig lacht.
    Ich merke, daß ich ein bißchen herablassend spreche, was mir nicht recht ist. Ich suche nach einem unverfänglichen Thema, aber mir fällt nichts ein. Da erzählt Annette, daß sie wegen einer Nierenstein-Entfernung bald ins Krankenhaus muß und daß sie vor der Operation Angst hat.
    Die Ärzte haben gehofft, daß der Nierenstein von allein abgeht, sagt Annette, aber das hat er leider nicht getan.
    Mama, sagt der junge Mann neben Annette, kannst du auch mal von etwas anderem reden?
    Jetzt muß ich lachen. Ich hätte nie für möglich gehalten, daß der kleine Säugling von damals einmal so genau meine heutige Empfindung aussprechen würde.
    Der Sohn von Annette schneuzt sich. Das ist meine Chance. Zum Zeichen meines Verschwindenwollens atme ich deutlich ein und aus. Ich versichere Annette, daß mir das Wiedersehen Vergnügen gemacht hat. Sie öffnet den Mund und nimmt ihre Brille ab und putzt sie mit einem Brillenputztuch vor meinen Augen. In diesem Moment greife ich in meine linke Anzuginnentasche und hole die Brotscheibe heraus. Annette setzt sich die Brille auf und sucht mit ihrer Hand nach meiner Hand. Sekunden später fühlt sie in ihrer Hand eine feste, schon ein wenig trockene Scheibe Brot. Annette ist befremdet, fast erstarrt, senkt den Kopf und sieht, daß ich ihr die Brotscheibe in die Hand geschoben habe. Annettewill etwas sagen oder fragen, kriegt aber nichts heraus und blickt mich an. Der Sohn ist noch stärker irritiert als seine Mutter. Ich will erklären, was ich mit der Brotscheibe ausdrücken will, aber auch ich kriege kein Wort heraus. Annette zieht ihre Hand mit dem Brot zurück, schaut das Brot aus der Nähe an, dreht es um und fragt dann:
    Was ist mit dir?
    Annette gibt mir die Brotscheibe zurück, ich stehe da und will noch einmal anfangen zu sprechen, aber es kommt noch einmal nichts außer dem Beginn eines Schluchzens.
    Komm, sagt Annette, faßt mich am Ärmel und führt mich zur Seite an den Tisch eines Terrassen-Cafés. Der Sohn bleibt neben uns stehen und schaut auf mich herab wie zum Zeichen, daß er mit mir nichts mehr zu tun haben will.
    Ein krampfartiges Schluchzen überwältigt mich wellenartig. Ich halte immer noch die Brotscheibe in der Hand.
    Was ist mit dem Brot? fragt Annette.
    Obwohl mir Tränen die Augen füllen und ich nicht viel sehe, erkenne ich doch, daß sich einige Passanten Gedanken über mich machen. Wie ein schnell gealterter Mensch fasse ich alles, was ich bei mir habe, kurz nacheinander an: mein Taschentuch, meinen Kugelschreiber, meine Brieftasche, ein bißchen Kleingeld, mein Schlüsselbund und einen Zettel mit Traudels Namen und den Telefonnummern. Ich reiche Annette den Zettel, sie gibt ihn weiter an die Bedienung, diese eilt mit ihm ins Innere des Cafés und ruft an. Ich sitze an einem Cafétisch und halte mir die Hände vor das Gesicht. Annette sagt, ich soll mich beruhigen. Der Sohn steht beiseite und zeigt seine Ungeduld. Die Bedienung kehrt mit einem Glas Wasser zurück und reicht mir den Zettel mit den Telefonnummern.
    Es kommt gleich jemand, sagt die Bedienung und verschwindet.
    Die Scheibe Brot liegt vor mir auf dem Tisch und entblößt mich. Ich habe nicht die Kraft, das Brot wieder in meine Anzugtasche zu stecken und eine Erklärung

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