Das Glück mit dir (German Edition)
seine hohe Stirn, seine tiefliegenden Augen, sein entschlossenes, wie gemeißelt wirkendes Kinn.
Abe.
Der Spitzname, den ihm seine Kollegen wegen seiner großen, schlanken Gestalt gaben; sie verwendet ihn nur selten.
Er wurde auch schon für einen Juden gehalten, aber seine Großeltern waren polnische Katholiken aus einer Stadt in Schlesien.
Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, zählt Nina und wartet auf den Donner, der erst bei siebenundzwanzig kracht.
Sie fürchtet sich bei Gewittern, davor, dass ein Blitz im Haus einschlägt, aber heute ist ihr das egal.
Sie hat keine Angst.
Ein lauter Donnerschlag, gefolgt von blauem Licht, das die Kabine seines Bootes erhellte – so beschreibt ihrJean-Marc, was passierte, als der Blitz einschlug. Der beißende Geruch von Ozon und verschmorter Elektrik, fügt er mit einer Grimasse hinzu und greift nach ihrer Zigarettenschachtel, obwohl er eigentlich gar nicht raucht. Sie sitzt draußen in einem Liegestuhl und nimmt ein Sonnenbad. Oben ohne.
Sie hat ihn nicht kommen hören, und dann ist es zu spät, das Bikini-Oberteil wieder anzuziehen.
Über ihnen haben sich dunkle Wolken zusammengeballt, und die Hortensien im Garten wirken jetzt dunkler, fast marineblau. Gleich wird es regnen. Weshalb sie auch über das Wetter sprechen und ob es ein Gewitter gibt.
Er hat ein Buch für Philip herübergebracht. Ein Buch über das Segeln.
Philip ist nicht da, sagt sie Jean-Marc. Er spielt Tennis.
Dieu merci war das Segelboot geerdet, fährt Jean-Marc fort und stößt dabei eine Rauchwolke aus, aber der Blitz zerstörte den Radar, das LORAN, die Positionslichter, die gesamte Elektronik an Bord. Zum Glück war ich nicht weit vom Ufer entfernt.
Wie weit?, fragt sie.
Du hast einen schönen Busen, sagt er.
Genau in diesem Moment spürt sie einen Regentropfen.
Sie greift nach ihrer Bluse und sagt, wir gehen besser ins Haus.
Gerade da kommt auch Philip mit dem Auto angefahren.
Es regnet, sagt er. Wir konnten nicht weiterspielen.
Die Affäre dauert nur diesen einen Sommer lang. Falls Philip etwas ahnt oder sie zur Rede stellt, wird sie es einfach leugnen.
Sie ist eine Lügnerin.
Der Lügner sagt: Das ist eine Lüge .
Sie kann es nie begreifen . Wenn es eine Lüge ist, dann muss es wahr sein, doch es kann nicht wahr sein, weil es dann eine Lüge wäre – das Paradox überfordert sie. Der Grund vielleicht, warum Mathematiker über der Lösung von Problemen der Logik verrückt werden.
Oder versuchen sie Probleme der Wahrheit zu lösen?
Noch ein Blitz, und sie steht zu schnell auf. Ihr ist schwindlig, sie wartet einen Moment, bis das Gefühl vorbeigeht. Dann tastet sie sich im Dunklen ins Bad. Dort schließt sie die Tür und knipst das Licht an.
Das Licht trifft sie schlagartig, zu grell. Ihr Gesicht im Spiegel sieht fremd aus – blass, und die Augen sind riesig. Sie nimmt ihre Haarbürste und beginnt sich die Haare zu bürsten. Wozu?, sagt sie laut zu dem Gesicht im Spiegel und legt die Haarbürste wieder hin.
Sie will das Medizinschränkchen öffnen, überlegt es sich aber anders, sie weiß, was da drin ist.
Sie schaut seine Zahnbürste in dem Glas an, seine Zahnpasta, die danebenliegt – wieder hat er vergessen, den Deckel draufzuschrauben –, sie wendet den Blick ab.
Während sie sich mit einem Handtuch die Hände abtrocknet, dreht sie sich um, um die Badezimmertür zu öffnen. An dem Haken hängen seine gestreifte Schlafanzughose und ein weißes T-Shirt aus Baumwolle. Das T-Shirt ist so alt, dass es schon durchscheinend ist. Je älter und weicher T-Shirts sind, desto lieber mag er sie. Neben T-Shirt und Schlafanzughose hängt das hübsche Batistnachthemd, das sie vor einem Monat in Rom gekauft hat.
Während sich Philip Vorträge anhört, besichtigt Nina Sehenswürdigkeiten und unternimmt einen Einkaufsbummel. Außer dem Nachthemd kauft sie noch eine teure Schultertasche aus braunem Leder mit goldenem Verschluss in einem Laden nahe der Piazza di Spagna – das Leder, versucht die Verkäuferin sie zu überzeugen, ist sehr strapazierfähig. Nina hat Schuldgefühle und zeigt Philip die Schultertasche nicht. Später, sagt sie sich, wird sie es tun.
Nun wird sie es niemals tun.
Im Palazzo Doria Pamphili steht Nina vor Rast auf der Flucht nach Ägypten und starrt den rothaarigen Engel mit den ausgebreiteten schwarzen Flügeln an. Bis auf einen weißen Stoffwirbel ist der Engel, der dem Betrachter den Rücken zuwendet, nackt; er spielt für die rastende Heilige
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