Das Glück mit dir (German Edition)
Sterben liegen.
Warum machen Sie nicht was Ehrenamtliches?, fragt sie Nina. In einem Obdachlosenheim zum Beispiel.
Ohne nachvollziehbaren Grund fängt Nina an zu weinen.
Dr. Mayer schlägt Nina vor, Medikamente zu nehmen. Homöopathische Medikamente.
Philip nimmt nur selten etwas – nicht einmal ein Aspirin, nachdem er sich bei dem Sturz im Restaurant auf Belle-Île die Schnittwunde am Kopf zugezogen hatte und am nächsten Tag sein Gesicht auf einer Seite ganz schwarz und blau wurde.
Und als du vom Baum gefallen bist und dir das Bein gebrochen hast?, fragt Nina. Splitterbruch mit freiliegendem Knochen, das muss doch sehr wehgetan haben.
Vermutlich. Philip ist Stoiker, er klagt selten.
Wie alt warst du da?
Ich weiß nicht mehr. Neun oder zehn.
Draußen prasselt der inzwischen heftige Regen gegen die Fensterscheibe.
In dem Jahr, das sie in Berkeley verbringen, regnet es jeden Tag – beinahe neunhundert Millimeter Niederschlag allein in diesem Jahr. Oder es herrscht dichter Nebel. Sie kann die Eukalyptusbäume in ihrer Straße nicht leiden – dass ihre Rinde in langen Streifen herunterhängt wie geschundenes Fleisch. Das gemietete Haus hat eine Dachterrasse mit einem Whirlpool, aber es wird ihr schnell langweilig, allein darin zu sitzen. Wie alt ist Louise in dieser Zeit? Elf, zwölf? Sie muss sie überall hinfahren: in die Schule, zum Tennis, zum Klavierunterricht und zum Ballett. Außer samstags, da geht Louise reiten und Philip fährt sie zur Reitschule in Marin. Er sitzt im Auto und korrigiert Arbeiten seiner Studenten, während er auf sie wartet. Oder er gehtin ein Café um die Ecke und liest die Zeitung. Lorna wohnt in Marin. Lorna, die brillante, labile irische Astrophysikerin mit dem Lockenkopf, die eine Überdosis Schlaftabletten nimmt.
Jeden Morgen nimmt Nina die kleinen weißen Pillen, die ihr Dr. Mayer verschrieben hat. Die Pillen sehen alle gleich aus, enthalten aber Gold, Silber, Kupfer, und sie lässt sie auf der Zunge zergehen. Sie sollen ihr die Angstgefühle, ihre Malaise nehmen.
Auch so ein schönes Wort.
Chou-fleur, malaise – sie wird eine Liste anlegen.
Und zweimal die Woche fährt sie über die Bay Bridge, um in einem Projekt für misshandelte Frauen auszuhelfen. Sie arbeitet im Büro, tütet Briefe ein, leckt Umschläge an, klebt Marken auf – eine todlangweilige Arbeit.
Philip ist den ganzen Tag unterwegs; außer seinem Lehrauftrag leistet er auch Forschungsarbeit für die Universität. Er ist gut gelaunt, zufrieden, voller Energie.
Er kommt mit dem Fahrrad nach Hause und sie streiten.
Du hast gesagt, du kommst um sieben. Jetzt ist es nach acht. Zehn nach acht.
Tut mir leid. Die Besprechung hat länger gedauert, als ich dachte.
Das Essen ist im Eimer.
Ich sage doch, es tut mir leid.
Gestern Abend hast du gesagt –
Nina, bitte, fang nicht schon wieder damit an.
Und warum bitte nicht?
Mom. Dad.
Gut, Liebling. Setzen wir uns also hin und essen.
Und Nina knallt die Schüssel mit dem angebrannten Essen auf den Tisch, so dass etwas überschwappt, und rennt nach oben.
Mom!
Louise ist fünfunddreißig und noch nicht verheiratet.
Wer wird sie zum Altar führen?
Sie nimmt noch einen Schluck Wein.
Mon chéri , flüstert sie ihm zu.
Ma chérie , antwortet er ihr.
Manchmal sprechen sie Französisch miteinander, obwohl Louise die Sprache nicht beherrscht. Sie sagen dann Dinge wie Un avion est tombé au milieu de l’Atlantique et il paraît que tous les passagers sont morts , oder On dit que Jim le garagiste en ville a violé une petite fille , aber bald versteht Louise genug Französisch und fragt: Wo ist ein Flugzeug abgestürzt? Wer ist gestorben? Was hat Jim gemacht?
Inzwischen sprechen sie über gewöhnlichere Dinge; manchmal flucht sie auf Französisch – merde , sagt sie, wenn sie sich stößt oder ihr ein Teller aus der Hand rutscht und zerbricht.
Merde sagt man auf Französisch auch, wenn man jemandem viel Glück wünscht.
»Mit Glück alleine«, erzählt Philip seinen Studenten, »löst man selten ein mathematisches Problem, wohl aber mit Konzentration und Vorstellungskraft. Vor allem mit Vorstellungskraft.« Um das zu untermauern, erzählt er, was der deutsche Mathematiker David Hilbert einem seiner Studenten gesagt haben soll: »Für einen Mathematiker haben Sie zu wenig Fantasie, Sie sollten Dichter werden.«
»Sind hier vielleicht irgendwelche Dichter?«, fragt Philip.
Ein paar Sekunden lang beleuchtet der Blitz das Zimmer und Philips Gesicht –
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