Das Glücksbüro
meiner Waisenrente. Sie hatten Fragen, weil ich ja jetzt volljährig war. Also ging ich raus …«
Es war, als würde er den Blick nach innen richten, und Anna schien ihm in die Siebzigerjahre zu folgen, sah das Amt und die Menschen von damals: mit langen Haaren und ulkigen Klamotten. Die alten Automodelle und den jungen Albert, der damals genauso ausgesehen haben mochte wie heute, nur mit dunklen statt angegrauten Haaren und einem glatten, unberührten Gesicht.
»Ich bin durch das Amt geirrt, hab versucht, das richtige Zimmer zu finden. Ich war ziemlich schüchtern, deswegen hab ich mich auch nicht getraut, jemanden zu fragen. Und so hab ich auch nichts gefunden. Also kam ich am nächsten Tag wieder. Und am übernächsten noch mal …«
Anna sah den jungen, eingeschüchterten Albert über die Flure irren, kreuz und quer durch das kafkaesk große Amt, in dem alle Flure und Türen gleich aussahen und wo man nie zu einem Ziel fand, wenn man nicht genau wusste, wohin man gehen sollte.
»Und dann traf ich ihn«, sagte Albert und sein Gesichtsausdruck bekam etwas Versonnenes. »In der Kantine. Georg. Er arbeitete im Amt und half mir bei meinen Anträgen. Wir freundeten uns an, und ich kam immer öfter vorbei, um ihn zu besuchen. Georg erzählte mir, dass er sich nach fernen Ländern sehnte, nach Reisen und Abenteuern. Und bei mir war es ganz umgekehrt, denn ich träumte von Sicherheit und einem kleinen Ort nur für mich.«
Anna dachte, dass dieser Georg nicht sehr alt gewesen sein konnte, wenn ihn die Abenteuerlust so hinauszog. Ein junger Mann, keine Familie, viele Träume. Sie stellte ihn sich mit langen Haaren und Koteletten vor, die er trug, obwohl es im Amt sicher nicht gerne gesehen war.
»Eines Tages schlug er mir vor, sein Nachfolger im Amt zu werden. Einfach so. Ich sollte ihm eine kleine monatliche Rente auf ein Konto im Ausland überweisen, als Grundstock für seine Reisen. Dafür durfte ich seinen Platz einnehmen. Anfangs hielt ich das für eine von seinen Spinnereien …«, Albert schmunzelte bei der Erinnerung, wurde dann aber wieder ernst, »… aber ein paar Tage später hatte er alles eingefädelt: Er hatte alle Unterlagen im Personalbüro vorbereitet …«
»Wie zum Teufel hat er das gemacht?«, fragte Anna.
»Jedenfalls nicht auf dem legalen Weg. Damals wechselten gerade die zuständigen Personalchefs. Der eine hatte seinen Resturlaub vor seiner Pensionierung genommen, der andere war noch gar nicht da. Er hatte mich in seinen eigenen Vertrag eingesetzt und alles in den Akten entsprechend geändert. Den Kollegen hat er mitgeteilt, dass ich der Neue bin. Das war eigentlich schon alles. Er ging – und ich blieb.«
Anna sah Albert vor sich, wie ihn sein Kumpel Georg den anderen Beamten vorstellte und dann seinen Ausstand gab. Sie sah die lachenden Gesichter vor sich, die Umarmungen zum Abschied, die guten Wünsche. Und dann Albert – in Georgs Büro. Das dann Alberts Büro wurde.
»Niemand hat Fragen gestellt, niemand hat es nachgeprüft. Es gab ja auch keinen Grund. Und plötzlich war ich der Herr Glück vom Amt. Und der bin ich heute noch.«
Anna strahlte ihn an. Was für eine wunderbare Geschichte! Und sie war die Erste, die sie hören durfte, was sie fast schon ein wenig sentimental machte. Sie umarmte ihn und flüsterte: »Du bist viel mehr als das!«
»Für mich war das Amt die Rettung. Alles war überschaubar und ordentlich. Bis du kamst.«
»Du meinst meinen Antrag?«
»Ja, deinen Antrag. Der nichts beantragt hat.«
»Außer mich.«
»Ja, außer dich.«
Sie küssten sich.
Nach einer Weile standen sie auf, weil Anna kühl war und sie zurück zum Wohnmobil wollte, das jetzt auf einem Campingplatz stand, um Albert nicht weiter zu beunruhigen. Da er den ganzen Rückweg nicht sprach, stupste sie ihn an und fragte: »Was ist?«
»Nichts.«
»Nichts?«
Er seufzte: »Das Wohnmobil …«
»Ja?«
»Es ist nicht unseres.«
Anna lächelte: ein fremdes Bett, ein fremder Wagen, ein fremder Ort. Dazu die Aufregung vom Vormittag und die allgemeine Unordnung, die Albert zu schaffen machte.
»Du möchtest lieber nach Hause, richtig?«
»Ja.«
»Ist schon okay. Lass uns nach Hause fahren.«
Albert fühlte sich erleichtert, aber er würde es wiedergutmachen. Und er wusste auch schon wie.
54.
Dr. Isidor Sommerfeldt war bester Laune.
Immer leuchtete der Funke in seinem Herzen, die Welt zu einem unglücklicheren Ort zu machen, um die Nation, die er so liebte, vor sich selbst zu
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