Das Glücksbüro
Natur. Sie lieh sich bei einem befreundeten Ehepaar ein Wohnmobil aus, warf ein paar Sachen in eine Tasche und wartete den Rest der Vorbereitungszeit auf Albert, der zum ersten Mal in seinem Leben einen Koffer packen musste und dies mit akribischer Genauigkeit tat. So sehr hatte er sein Leben dann doch nicht geändert, als dass ihm das Chaos in einer unordentlichen Tasche nicht reichlich unheimlich gewesen wäre.
Es wurde der ordentlichste Koffer aller Zeiten, fast zu schön, um ihn zu schließen. Man hätte ihn für ein Reisemagazin fotografieren sollen, für all die, die wissen wollten, wie man einen halben Hausstand in einen ganz normalen Hartschalenkoffer bekam, ohne dass etwas geknickt, geknittert oder gequetscht wurde.
Nach Mitternacht fuhren sie dann endlich los und erreichten im Morgengrauen die holländische Küste. Anna suchte ein Plätzchen zwischen den Dünen, das selbstredend für Wohnmobile verboten war, und störte sich nicht an Alberts Protest. Immerhin versprach sie, einen Campingplatz aufzusuchen, wenn Albert im Gegenzug mit ihr draußen im Sand schlief. Albert willigte ein. Eingekuschelt in Decken schliefen sie ein paar Stunden, bis die Sonne ihre Nasen kitzelte und es zu warm wurde, um weiter liegen zu bleiben. Anna sprang auf und wollte im Meer baden, was Albert auch reizte.
Er kletterte auf eine Düne und sah zum ersten Mal das Meer.
Die Nordsee war bei Weitem nicht so ästhetisch wie die Küsten, die er von seiner DVD kannte, vor allem das Wasser wirkte grau und schwerfällig, und doch war sie viel schöner als alles, was er bis dahin gesehen hatte: Ein würziger Geruch von Salz und Sand lag in der Luft, der Himmel war blau, die Brandung rauschte und Möwen zogen kreischend über ihre Köpfe hinweg. Der Wind war warm und strich sanft über sein Gesicht: Er hätte ewig so dastehen können!
Anna stürmte los und stürzte sich voll bekleidet in die See.
Sie winkte und rief ihm zu, dass er ihr folgen sollte, doch das schien Albert ein wenig zu gewagt. Er wollte sich zuerst eine Badehose anziehen und Handtücher raussuchen. Anna hingegen genoss das kalte Wasser und ließ sich von den Wellen überspülen, bis ihr kalt wurde und sie rasch wieder zurück zum Wohnmobil lief.
»Albert?«, rief sie. »Jetzt sag nicht, du hast deine Badehose vergessen!«
Sie kletterte in den Wagen und alles, was sie sehen konnte, waren Alberts Schuhe. Sekundenlang stand sie in der Tür und starrte auf Alberts Beine, weil ihr Verstand nicht akzeptieren wollte, was sie sah: Albert lag reglos auf dem Boden, und nur seine Füße ragten hinter dem Bett hervor.
» ALBERT !«
51.
Wie lang so ein Krankenhausflur doch sein konnte. Anna sah verwirrt hinein: ein langer, steriler Gang, an dessen Ende ein bodentiefes Fenster war, was einem das Gefühl gab, er würde niemals aufhören. Albert war dort auf einer Transportliege hineingeschoben worden und hinter einer Tür verschwunden, während sie draußen auf einer Besucherbank saß und ihre Hände knetete: Wenn sie jetzt dort hineinging, würde sie dann jemals die Tür erreichen, hinter der Albert verschwunden war? Was, wenn dieser Weg nur denen vorbehalten war, die nicht mehr zurückkehren konnten? Deren Weg hinter der Tür endete?
Die Lebenden hingegen konnten so schnell laufen, wie sie wollten, die Strecke würde sich in dem Maße verlängern, wie sie selbst noch vom Tod entfernt waren. Und das konnte Jahre, vielleicht Jahrzehnte dauern, bis man endlich ankam. So konnte sie nur still dasitzen und hoffen, dass er wusste, wie sehr sie ihn liebte. Der stille Herr Glück hatte sich in ihr Leben geschlichen und ihr Chaos aufgeräumt. Und sie hatte es nicht einmal gemerkt!
Sie kicherte kurz und konnte endlich weinen.
52.
Albert war in einem Raum der Notaufnahme zu sich gekommen, orientierungslos und verschreckt, denn eben noch hatte er nach seiner Badehose gesucht, jetzt aber blickte er in helles Licht, das ihn die Augen zukneifen ließ. Eine OP -Lampe blendete ihn, und es kostete ihn einige Mühe, sie zur Seite zu schieben und sich langsam aufzurichten: Wo war er hier? Und wo war Anna?
Eine Tür öffnete sich, und ein Arzt im weißen Kittel kam herein, neben ihm eine Schwester, die ihm aufmunternd zulächelte und dann schnell ihren Blick abwandte. Der Arzt klemmte Röntgenaufnahmen in einen Leuchtkasten und knipste das Licht an: Offensichtlich hatte man seinen Kopf geröntgt. Wie auf Kommando spürte Albert einen pulsierenden Schmerz am Hinterkopf und ertastete eine
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