Das Glücksbüro
er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte: Was war real? Was war Halluzination?
Alles hatte damit begonnen, dass er immer unvorsichtiger geworden war und sich auf Kindereien mit Mike Schulze eingelassen hatte – das war real, doch warum hatte er das getan? Dann hatte er Schulze und Wehmeyer singen gehört, als sie eigentlich miteinander stritten – real oder Teil der Magie eines Amtes? Es war doch magisch, sein Amt? Es war doch immer schon magisch! Oder nicht?
Annas Bild hatte sein Büro mit wunderbaren Farben und Lichtern erfüllt – real? Und war er mit ihr im Tanz zur Musik durch die Luft geschwebt? Sicher nicht – oder doch?
E 45.
Der Antrag, der nicht verschwinden wollte … real? Wehmeyer hatte ihn gesehen, aber hatte er das wirklich? Er war zuweilen unkonzentriert, vor allem, wenn es auf Feierabend zuging. Hatte er wirklich E 45 als betriebsfremd erkannt oder sich nur auf Alberts Wort verlassen? Und war der Antrag wirklich zu Albert zurückgekehrt? Wieder und wieder? Oder hatte er E 45 selbst erschaffen und erinnerte sich nicht daran, weil er Teil eines Blackouts war? Was war denn jetzt echt?
Der Boden, auf dem er stand?
Der Himmel über seinem Kopf?
Die Luft, die er atmete?
Spielte es überhaupt eine Rolle, wenn es im Großen und Ganzen nur darum ging, glücklich zu sein? Wäre es da nicht kleinkrämerisch zu unterscheiden, ob dieses Glück nun real war oder nicht?
Was genau war eigentlich Glück?
Denn die Wahrheit war doch, dass man zwar dessen Auswirkungen kannte, aber nicht das Glück selbst. Wie ein kleiner Finger, der einen Knopf drückte, aber zu wessen Hand gehörte dieser Finger?
Albert starrte auf die See, den schönen Sonnenuntergang, der den Horizont orangerot entflammt hatte, und zog Anna ein bisschen näher an sich heran. Sie saßen auf einer der Dünen und genossen den warmen Sommerabend, und Albert beschloss, den Fragen in seinem Kopf nicht weiter nachzugehen: Es war gut so, wie es war. Nicht alles musste beantwortet werden.
»Bin ich froh, dass es nur ein Schwächeanfall war«, sagte Anna und schmiegte sich weiter an ihn.
»Hm«, nickte Albert.
»Wie hast du das denn in den letzten fünfunddreißig Jahren gemacht? Hausbesuche vom Arzt?«
»Ich war nie krank.«
Anna richtete sich ungläubig auf und sah ihn an: »Ach komm!«
Albert lächelte sie an: »Nicht einmal ein Schnupfen.«
Was für eine Ironie, dachte Albert, dass seine erste Krankheit zugleich seine letzte sein würde. Albert fühlte sich nicht wohl mit dem Gedanken, Anna anzulügen, aber noch viel unwohler war ihm, wenn die Zeit, die ihnen noch blieb, mit Trauer, Angst und Schmerz angefüllt sein würde. Das wollte er nicht für sie und auch nicht für sich selbst.
»Und die anderen Sachen? Einkaufen und so etwas?«, fragte Anna.
Albert zuckte mit den Schultern: »Gegessen hab ich ja im Amt. Und was ich sonst noch brauchte, habe ich beim Versandhandel gekauft. Und später dann im Internet. Eine tolle Erfindung: das Internet. Es hat mir die Freiheit geschenkt.«
»Unglaublich.«
Albert küsste sie auf die Wange und streichelte ihr Gesicht. Dann wandte sie ihr Gesicht wieder den letzten Sonnenstrahlen zu und schloss die Augen: »Es muss herrlich sein, am Meer zu leben. Findest du nicht?«
Er sah sie an, und sie strahlte förmlich vor Glück.
»Ja.«
Es war bereits dunkel, als Anna sich plötzlich zu ihm umdrehte und fragte: »Willst du mir nicht endlich erzählen, wie das alles gekommen ist?«
Sie hatten einander noch nicht viel von sich erzählt, nicht weil es sie nicht interessiert hätte, sondern weil sie überzeugt davon waren, noch ein ganzes Leben Zeit dafür zu haben. Was ihnen nicht klar war, war, dass ein ganzes Leben ein trügerisches Maß war, denn es konnte sehr kurz sein. Genau wie das Glück nicht nur die Emotionen, sondern auch die Physik verklärte: Alles wurde größer, bunter, länger, schöner.
Albert dachte nach, dann begann er: »Die Welt war mir immer zu groß. Schon als Kind. Alles ist durcheinander, nichts bleibt an seinem Platz. Sehr beängstigend. Also blieb ich zu Hause. Weißt du, dass die meisten Probleme damit anfangen, dass die Leute nicht einfach zu Hause bleiben?«
Sie lächelte ihn an, denn sie mochte seine Verschrobenheit und seinen Blick auf die Welt.
»Ich war sechzehn, als meine Eltern bei einem Autounfall starben. Mit Erlaubnis des Jugendamtes durfte ich in unserem Haus bleiben. Und da blieb ich dann auch. Zwei Jahre lang. Dann bekam ich ein Schreiben wegen
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