Das Glücksprojekt
nicht gern im Mittelpunkt. Ich bin lieber eine reizende Randerscheinung. Deswegen ist es mir auch wahnsinnig unangenehm, vor dem Gitarrenkoffer auf dem Boden zu knien und die einzelnen Münzen, die nach meinem schwungvollen Wurf rausgesprungen sind, aufzuklauben und etwas vorsichtiger wieder hineinzulegen. Mit rotem Kopf gehe ich rückwärts auf meinen Platz und stelle mich zwischen die anderen Zuhörer. Der Typ schaut mir jetzt beim Singen oft in die Augen. Blöd: Er sieht nicht so gut aus, dass mir das gefallen könnte, es ist mir eher peinlich. Als er dann »Killing me softly« anstimmt, verlasse ich fluchtartig das Geschehen.
Als Nächstes laufe ich fast ungebremst in eine kleine, dicke Frau mit Kopftuch, die ein Kleinkind auf dem einen Arm trägt und mir den anderen entgegenstreckt. »Fir Kind, bittä.« – »Moment«, antworte ich und suche nach dem Kleingeld. Schön: Ich habe kein negatives Gefühl, ich bin in keinem Dilemma. Ich versuchte nicht, ihr aus dem Weg zu gehen, und überlege auch nicht, wie ich Nein sagen kann. All das, was mich am Schnorren so nervt, fällt weg. Während sie vor mir steht, geht eine ältere Dame an uns vorbei, so eine mit anliegender grauer Dauerwelle, und sagt eben laut genug, dass wir es hören können: »Das ist doch alles eine Mafia!« Die Frau mit dem Kopftuch und ich, wir gucken beide betreten.
Am Eingang zur U-Bahn steht ein Verkäufer der Obdachlosenzeitung. Da weiß ich nie, ob es unhöflich ist, nur das Geld zu geben und auf die Zeitung zu verzichten. Sie interessiert mich nicht und es ist eine Verschwendung, wenn ich sie fast ungelesen entsorge. Andererseits hat der Verkäufer vielleicht ein besseres Gefühl, wenn er etwas verkauft und nicht durch mein Ablehnen seiner Ware zum Bettler wird. Oder ist er froh, meine Zeitung noch mal verkaufen zu können?
Am Ende meiner Tour durch die Stadt setze ich mich auf eine Bank auf einem Grünstreifen und resümiere.
Menge an gespendetem Kleingeld: 9 Euro, 20 Cent
Glücksgefühle: Null
Anderweitige Gefühle: Trauer, Scham, Fremdschämen, Mitleid, Unsicherheit
Miserable Glücksbilanz. Während ich grüble, setzt sich eine alte Frau mit ihrem Dackel neben mich. Alte Leute haben ja eine Art, einen in Gespräche zu verwickeln, die ist unschlagbar. Ich glaube, die machen da Kurse im Altenheim. Die fangen einfach an zu reden! Auch wenn man mit dem Rücken zu ihnen sitzt, einen Kopfhörer aufhat und tief schläft. Völlig egal, die fangen trotzdem an. Das ist natürlich auch gleichzeitig so rührend, dass man brav die Augen öffnet, den Kopfhörer abnimmt, sich ihnen zuwendet und im Dreivierteltakt nickt. Die Oma mit dem Dackel berichtet ihrem Hund über das Telefonat mit ihrem Sohn gestern, dabei dreht sie sich geschickt in Position, und dann erzählt sie mir das Ganze noch mal. Der Dackel, der Glückliche, rollt sich ein und pennt, und ich mache seinen Job und höre zu. Als wir bei der 9. Klasse Gymnasium des Sohnes sind (der Sohn, Herrmann, ist Anfang 60), denke ich noch: »Wie komme ich hier weg?« Ich sehe mich nach Alternativpassanten um, aber niemand setzt sich zu uns. Kurz vor dem Abitur von Herrmann (Notendurchschnitt 1,3) überlege ich einfach aufzustehen und zu gehen. Kurz und schmerzlos. Nein, das geht nicht. Ich kann doch die Dackel-Oma nicht so sitzen lassen, da müsste ich ja selbst heulen. Während ich in Gedanken bei all dem bin, was ich heute Vormittag noch erledigen muss, höre ich: »Aber ich will Sie nicht mit meinen Geschichten aufhalten, Sie sind bestimmt in Eile, Schätzchen.« Ach, Dackel-Oma. Nein, ich bin nicht in Eile. »Da können Sie aber sehr stolz sein auf Ihren Herrmann, das ist ja ein hervorragender Abschluss«, antworte ich und die Oma strahlt. Wie ein Vögelchen sieht sie aus. Wie meine Oma.
Seit ich mich dazu entschlossen habe, ihr meine Zeit zu schenken (Scheiß auf den Rotwein für heute Abend und den Blumenstrauß für L.s Mutter), bin ich ganz ruhig geworden. Und das, obwohl wir erst bei Herrmanns Studentenzeit sind, als er noch nebenbei Tram fahren musste, um sich das Studium zu finanzieren. Der innerliche Hibbel hat sich verzogen, ich lehne mich zurück, die Sonne scheint mir ins Gesicht und der Oma und dem Dackel auch. Es riecht nach Frühling. Ich freue mich darüber, wie stolz sie auf ihren Herrmann ist, wie ihre Augen leuchten, und fühle mich tatsächlich glücklich. Nicht weil ich weiß, dass Herrmann dann doch noch geheiratet hat (Ingrid, eine Schwäbin!), sondern weil ich der
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