Das Glücksprojekt
er weiß, dass das nur andersrum funktioniert. Das ist wie mit den Drogen: Wenn man nicht unbedingt selbst aufhören will, klappt es nicht. Ich bin praktisch der Pete Doherty des Nägelkauens. Ein paar halbherzige Versuche, damit aufzuhören, habe ich hinter mir, aber am Ende sahen meine Nägel doch wieder aus wie eine Miniatur-Skyline der Alpen.
Abgesehen davon, dass man nicht sehr souverän aussieht, wenn man auf einem Fingernagel rumknabbert, wird man außerdem für einen undisziplinierten Psycho gehalten. Sagen wir es so: Ich habe die Kanzlerin noch nie Fingernägel kauen gesehen. Oder hätten Sie Vertrauen zu Ihrem, sagen wir, behandelnden Chirurgen, der ständig seinen Zeigefinger in den Mund steckt? Wissen Sie, wer Fingernägel kaut? Britney Spears! Sehen Sie.
10 bis 15 Prozent aller Erwachsenen beißen Fingernägel, meist um die innere Anspannung zu mildern. Ein Beruhigungsmittel, Daumenlutschen für Fortgeschrittene. Ein bisschen Sorgen mache ich mir schon, was passiert, wenn ich das abstelle. Entwickle ich dann vielleicht eine Alternative?
Ich könnte auf meinem Bleistift kauen.
Oder mit dem Bleistift auf den Schreibtisch klopfen.
Oder mit Papierkugeln auf die Drösel’sche Frisur werfen.
Ich bin ein Stressknabberer. Bei Stress stecke ich automatisch einen Finger in den Mund und merke es nicht einmal. Das Mittel meiner Wahl ist ein bitterer Lack, den ich auf die Nägel schmiere. »Todsicher«, hat die Apothekerin gesagt. Abends sitze ich in der Küche, L. füllt ein Huhn, ich lackiere meine Nägel. Ich stecke einen Finger zur Probe in den Mund. Der Effekt ist grandios. Ich renne sofort mit ausgestreckter Zunge ins Bad und spüle mir den Mund mit Seife aus. Seife schmeckt scheußlich? Seife schmeckt wunderbar, verglichen mit dem Lack, den ich auf den Fingern habe. Haben Sie sich auch schon mal versehentlich Salz statt Zucker in den Kaffee getan? Genau so, nur in bitter. Der Mund schreckt bei der ersten Berührung zurück, wie vor etwas sehr, sehr Heißem. Die Hölle schmeckt wahrscheinlich so. Ich bin mir sicher, an dem Zeug kann man sterben. Deswegen auch todsicher. L. liest vorsichtshalber die Liste der Inhaltsstoffe. »Keine Ahnung, das könnten auch die Namen von Südseeinseln sein. Ist aber bestimmt nicht gefährlich«, versucht er mich zu beruhigen.
»Pon wegen, ih pin pergiftet«, empöre ich mich mit immer noch herausgestreckter Zunge. Sie soll so wenig Kontakt wie möglich mit meinem Gaumen haben. L. legt mir zur Beruhigung ein Stück Schokolade darauf, das hilft.
Am nächsten Tag in der Arbeit ärgere ich mich wahnsinnig. Ich sitze vor meinem Computer und ständig will ich einen Fingernagel in den Mund stecken. Dann schrecke ich kurz vor meinem Mund zurück, weil sich mein Hirn den Geschmack ein für alle Mal gemerkt hat, und bin dann grässlich frustriert. Wie viele Frustmomente kann ein Mensch einstecken? Irgendwann reicht es mir schließlich. Stocksauer sitze ich vor dem Rechner, in der rechten Hand eine Tafel Schokolade. Ich versuche die Zeit zwischen Finger-aus-dem-Mund und Schokolade-in-den-Mund zu minimieren, aber das Bittere auf meiner Zunge ist unerträglich. »Alles in Ordnung?«, fragt die Drösel und sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Allep thuper«, antworte ich und vertiefe mich mit herausgestreckter Zunge in den Text auf dem Bildschirm.
Es dauert etwa zwei Wochen. Zwei Wochen lang stecke ich keinen Nagel in den Mund, sondern fahre nur halbherzig mit den anderen Fingern daran entlang. Ich drücke stattdessen auf Handschmeichlern herum, spiele an den Nähten meiner Jeans und trinke um 100 Prozent mehr Kaffee. Aber jetzt sind an meinen Nägeln so kleine weiße Ränder zu sehen. Fingernägel! In den darauffolgenden Tagen komme ich zu nichts, weil ich permanent meine Fingernägel anschauen muss. Ich halte gerne die Hand so halb von mir weg und sehe mir meine Fingernägel vor den verschiedenen Hintergründen an: Fingernägel vor Jeans, Fingernägel vor Wand, Fingernägel vor Himmel und so weiter. Ich freue mich, dass ich etwas, das mich so gestört hat, los bin. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich stets versucht habe, meine Fingernägel zu verstecken. Niemand sollte sie sehen. Jetzt bin ich frei und außerdem ganz schön stolz auf mich.
Der Lack bleibt noch für ein paar Wochen drauf, falls ich einen Rückfall erleide, aber er stört ja nicht. Außer bei dieser piekfeinen Ausstellungseröffnung, als Platten mit Fingerfood herumgereicht werden und ich mir ein Röllchen
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