Das Gluehende Grab
hinunter.
»Ja,
kann man schon sagen. Ich bezweifle allerdings, dass meine
Ausbildung dabei eine so große Rolle gespielt hat. Wir hatten
einfach Glück mit den Fangquoten und haben gute Kapitäne.
Es ist mir zwar gelungen, die Grundlagen des Betriebs zu
verbessern, aber das ist nur ein kleiner Teil des Ganzen. Durch den
Rückgang der Kabeljaubestände ist es wieder schwieriger
geworden und natürlich durch die Instabilität der
Krone.«
Dóra
nickte. Nichts langweilte sie mehr als Gespräche über
Finanzen. »Und Markús hatte nie etwas mit der Reederei
zu tun?«
»Nein,
er ist seinen eigenen Weg gegangen«, antwortete Leifur.
»Zum Glück. Es ist nicht leicht, eine Firma mit zwei
Chefs zu führen. Nachdem mein Vater sich zurückgezogen
hat, habe ich die Firma übernommen, und es läuft gut.
Aber Markús kann sich auch nicht beklagen. Er profitiert von
seiner Beteiligung.«
María
schnaubte. »Ihr könntet noch mehr profitieren, wenn ihr
verkaufen würdet. Du bist nicht der einzige Betriebswirt in
der Familie. Ich weiß sehr gut, wie viel man für die
Fangquote und die Schiffe bekommen würde. Magnús sagt,
wir könnten alleine von den Zinsen wie Gott in Frankreich
leben. Markús eingeschlossen.« Sie trank einen
Schluck.
Dóra
wusste nicht, welchen Magnús sie meinte, war sich aber
ziemlich sicher, dass es sich nicht um Leifurs und
Markús’ Vater handelte. Aber unabhängig davon war
der Grund für die Meinungsverschiedenheiten der Eheleute nun
klar. María wollte verkaufen und in die Stadt ziehen. Dort
gab es Wellnesspaläste und genügend Geschäfte, in
denen man Geld ausgeben konnte. Sie würde perfekt in eine
exklusive Dachgeschosswohnung in 101 Reykjavík passen, wo
sie über eine Vase mit einer einzelnen Lilie hinweg über
das blaue Meer schauen und an ihrem Café au Lait nippen
könnte. Leifur passte hingegen genauso wenig in solch eine
minimalistische Wohnung wie ein besticktes Kissen. Offenbar {99
}wollte er die Firma behalten und auf der Insel wohnen bleiben.
Vielleicht hatte er auch moralische Gründe. Ob er sich nach
dem Verkauf der Quote und der Reederei auf den
Westmännerinseln noch wohlfühlen würde?
Schließlich war es nicht leicht, die Verantwortung für
so viele Arbeitsplätze in einem kleinen Ort zu tragen.
Dóra kam die Gemeinschaft auf der Insel vor wie im alten
Island. Vor der Zeit der Finanzhaie, als es kaum
Schichtunterschiede gab und die reichsten Männer die Apotheker
waren. Leifurs und Marías Haus unterschied sich kaum von den
Häusern ihrer Nachbarn: groß und gut in Schuss, aber
alles andere als prachtvoll. Es musste ein komisches Gefühl
sein, Geld im Überfluss zu besitzen, es aber nicht ausgeben zu
können – vor allem für María, die bestimmt
Wert auf Luxus legte. »Wohnen deine Eltern noch hier?«,
fragte Dóra Leifur und nahm noch einen Bissen Ei. Sie konnte
sich nicht vorstellen, wie irgendein Vogel ein so großes Ei
legen konnte, es sei denn, er war ein Strauß.
»Ja«,
antwortete Leifur. »Sie wohnen ein paar Häuser weiter,
aber wer weiß, wie lange das noch gutgeht. Mein Vater ist
sehr anstrengend, und meine Mutter schon so gebrechlich, dass sie
kaum noch mit ihm klarkommt. María hilft ihr, aber langsam
brauchen wir professionelle Unterstützung, und die ist hier
schwer zu kriegen.«
Dóra
musste María unerwarteterweise einen Pluspunkt geben. Sie
musterte die Frau. Trotz ihrer kühlen Art musste sie ein gutes
Herz haben. Es war nicht schwierig, sich in ihre Lage zu versetzen:
Die Kinder waren vermutlich aus dem Haus, und sie hatte kaum
Zerstreuung, während ihr Mann voll im Berufsleben stand. Ihre
Wurzeln lagen in Reykjavík, und alte Freundinnen würden
nicht mal eben auf einen Kaffee vorbeischauen. »Habt ihr
Kinder?«, wandte sich Dóra an María.
»Wohnen sie noch hier?«
»Nein«,
antwortete María betrübt. »Ich meine, nein, sie
wohnen nicht mehr hier, und ja, wir haben Kinder. Zwei.
Magnús und Margrét.« Sie straffte ihren
Rücken. »Margrét studiert im Ausland, Medizin,
und Magnús ist Betriebswirt wie sein Vater. Er arbeitet {100
}bei einer großen Bank, hat gerade die Anlagenabteilung
übernommen.« Sie sah zu ihrem Mann. »Es ist
völlig abwegig, dass einer von ihnen die Firma übernimmt.
Magnús verdient schon doppelt so viel wie sein
Vater.«
»Das ist
doch überhaupt nicht sicher«, fiel Leifur ihr ins Wort.
»Das weißt du sehr gut.« Er wandte sich an
Dóra. »Unsere Kinder haben zwar ihre eigenen Wege
eingeschlagen, aber man weiß nie,
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