Das Gluehende Grab
»Aber du hast dir doch bestimmt Gedanken
darüber gemacht?«
»Natürlich«,
antwortete Hjörtur. »Aber ich habe wohl nicht genug
Phantasie, um mir das richtig vorzustellen. Ich hab
spaßeshalber mal alte Zeitungen von damals durchgesehen
– die haben wir auf Mikrofilm – und nichts über
Verschollene gefunden, weder über Isländer noch sonst
wen. Die Männer wurden anscheinend überhaupt nicht
vermisst, was ziemlich merkwürdig ist.« Er
räusperte sich. »Ich weiß ja nicht, wie viel du da
unten sehen konntest, aber als ich im Keller war, hatte die Polizei
Flutlichter aufgestellt. Ich hab gesehen, dass zumindest zwei der
Männer Eheringe trugen. Was sind das denn für
Ehemänner, die nicht von ihren Frauen vermisst
werden?«
Boshafte
Gedanken an ihren Ex-Mann schossen Dóra durch {93 }den Kopf.
»Gute Frage«, sagte sie. »Hat irgendwas darauf
hingedeutet, dass die Männer Seeleute waren? Ich dachte an
einen möglichen Zusammenhang zum Kabeljaukrieg.«
Hjörtur
schüttelte sachte den Kopf. »Soweit ich sehen konnte,
haben sie kein Ölzeug angehabt oder andere Kleidung, die
damals für Seemänner typisch war. Aber das heißt
nichts, Seeleute tragen schließlich auch nicht ständig
Arbeitskleidung.« Er grinste und musterte seine
verschlissenen Jeans.
»Verstehe.«
Dóra hätte sich eine andere Antwort gewünscht
– am besten, dass die Männer Angelhaken und Netze
dabeigehabt hätten. »Glaubst du, dass die Leichen
versehentlich in das falsche Haus gebracht worden sind? Hätte
man die Häuser während des Ausbruchs verwechseln
können?«
Hjörtur
zuckte mit den Schultern. »Tja, das weiß ich auch
nicht. Ich bezweifle es, aber hundertprozentig sicher bin ich mir
da nicht.« Er kratzte sich an der Stirn. »Schon
möglich, dass das Haus, in das die Leichen eigentlich gebracht
werden sollten, verschwunden war. Es gibt eine gute Website
über das von der Lava zerstörte Gebiet. Da sind auch die
Häuser beschrieben, die jetzt wieder aus der Asche ausgegraben
werden. Vielleicht hilft dir die.«
Er
notierte die Internetadresse. Das war ein guter Tipp.
Möglicherweise sollten die Leichen gar nicht in
Markús’ Elternhaus landen, aber die Launen des Vulkans
hatten die ursprünglichen Pläne durchkreuzt. Warum sollte
man Leichen im eigenen Keller verstecken, wenn zahlreiche andere
Häuser zur Auswahl standen? Waren die Leichen und der Kopf nur
zufällig am selben Ort gelandet? Dieses Rätsel irritierte
Dóra langsam. Sie musste unbedingt etwas über die
Herkunft der Leichen herausfinden. Im Interesse von Markús,
aber auch zur Befriedigung ihrer eigenen
Neugier.
Dóra
saß mit einer dampfenden Tasse Kaffee im selben
Hafenrestaurant, in dem Bella und sie zu Abend gegessen hatten.
Dort gab {94 }es einen Computer, sodass Dóra zwei Fliegen
mit einer Klappe schlagen konnte: Kaffee und Internetzugang. Sie
hatte Bella ins Stadtarchiv geschickt und schaute sich die von
Hjörtur empfohlene Website an. Dóra hatte eindeutig die
bessere Wahl getroffen: Sie saß in einem netten Restaurant,
während Bella alte, verstaubte Akten nach zwei Namen
durchstöberte. Aber das war angesichts des gestrigen Abends
nur gerecht. Dóra wusste nicht, ob es im Stadtarchiv
überhaupt Aufzeichnungen über die Evakuierung gab, aber
da Bella sich noch nicht wieder gemeldet hatte, musste sie wohl auf
etwas gestoßen sein. Oder sie hatte den Archivar
verführt.
Dóra
überflog den Text auf dem Bildschirm. Sie fand sofort
Informationen über Markús’ Elternhaus und
notierte sich die Namen der Bewohner aller zehn Häuser in der
Straße. Die meisten Namen sagten ihr nicht viel – nur
Kjartan vom Hafenbüro hatte offenbar neben Markús
gewohnt.
Dóra
klickte in der Hoffnung auf weitere Informationen auf den Link
Einwohner im Suð urvegur. Dort standen kurze Lebensläufe
von vier Personen. Neben einem war ein Foto von Kjartan Helgason.
Dóra erkannte den Mann sofort wieder. Seine Biographie war
allerdings nicht sehr ausführlich: Kjartan war lange Zeit zur
See gefahren, hatte dann verschiedene Jobs gehabt, bis er seine
jetzige Anstellung als Hafenwärter bekam. Er hatte geheiratet
und vier Kinder bekommen, die alle erwachsen waren. Dóra
überflog die anderen Biographien: Das einzig Interessante war,
dass alle Familien sehr viele Kinder gehabt hatten. Es gab nur ein
kinderloses Ehepaar, und von dem abgesehen hatten Magnús und
seine Frau Klara die wenigsten Kinder – nur die beiden
Söhne Leifur und Markús.
Dóra
leerte ihre Kaffeetasse und
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