Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen
versuchte es wieder. Eine Mundzu-Mund-Beatmung würde ich ihr erst geben, wenn mir keine andere Wahl blieb.
In diesem Moment bemerkte ich die klaffende Wunde an ihrem Kopf. Ich begriff nicht, wie ich sie vorher hatte übersehen können – ihr Haar war blutgetränkt. Für einen Moment hörte ich auf mit der Herzmassage, um nachzusehen, wie schlimm es war.
Es war nicht bloß ein Schnitt. Mir drehte sich der Magen um, als ich ihr Haar beiseiteschob, um die Wunde anzusehen. Die Oberseite ihres Schädels war nicht länger gerundet – sie war flach.
Ich stieß einen spitzen Schrei aus und schlug mir die Hand vor den Mund, kurz davor, mich zu übergeben. Selbst in der Dunkelheit konnte ich erkennen, dass es nicht nur Blut und Haare waren, was ich sah. Ihre Kopfhaut lag frei und löste sich teilweise ab, und darunter glänzte ein eingeschlagener Schädel und Stück-chen von – oh Gott, ich wollte nicht einmal darüber nachdenken.
Schnell legte ich meine Finger an ihren Hals, suchte vergeblich nach einem Puls. Mein Atem ging mittlerweile in raschen Stößen, und die Welt schien sich zu drehen, als ich reflexartig mit der Herzmassage weitermachte. Sie konnte nicht … Das war unmöglich. Es war ein Streich, bloß ein geschmackloser Scherz, der damit enden sollte, dass ich meinen traurigen Hintern zum Eingangstor schleppen und nach Hause laufen musste. Sie sollte doch nicht …
„Hilfe!“, schrie ich, so laut ich konnte, und heiße Tränen strömten mir übers Gesicht. „So hilf ihr doch jemand!“
4. KAPITEL
DER FREMDE
Schluchzend presste ich wieder und wieder meine Hände auf Avas Zwerchfell. Sie konnte nicht tot sein. Noch vor zwei Minuten hatte sie mich angefaucht wegen … Ja, weswegen eigentlich? Es spielte keine Rolle mehr. Mit dem Handrücken wischte ich mir die Augen und holte tief und bebend Luft. Nein. Unmög-lich. Das geschah gerade nicht wirklich.
„Hilfe!“, schrie ich und blickte wild um mich, verzweifelt auf ein Zeichen hoffend, dass irgendjemand in der Nähe war. Doch alles, was ich zu allen Seiten sah, waren Bäume, und das einzige Geräusch, das ich hören konnte, war das Rauschen des Flusses. Selbst wenn auf diesem Grundstück überhaupt jemand lebte, hätte er meilenweit entfernt sein können.
Ich blickte wieder auf Ava, und ihr Gesicht verschwamm, als meine Augen sich wieder mit Tränen füllten. Was sollte ich nur tun?
Mit bebenden Schultern stolperte ich ein paar Schritte zurück und sank wieder zu Boden, saß da und starrte auf Ava. Ihre Augen standen weit offen, unbewegt, leblos. Keine Regung war zu sehen, während das Blut langsam aus ihrer Kopfwunde lief. Es war sinnlos.
Ich zog die Knie an die Brust, unfähig, meinen Blick von ihr loszureißen. Was würde jetzt geschehen? Wer würde uns finden? Ich konnte sie nicht hier zurücklassen. Ich musste hierbleiben, bis uns jemand fand. Oh Gott, meine arme Mutter – was würden die Leute sagen? Würden sie denken, ich hätte Ava umgebracht? Hatte ich das nicht auch irgendwie? Hätte ich nicht zugestimmt, mit ihr herzukommen, wäre sie niemals kopfüber in den Fluss gesprungen.
„Kann ich dir helfen?“
Mein Herz setzte einen Schlag aus. Neben mir stand ein Mann – ein Junge? Ich konnte es nicht sagen, denn sein Gesichtwar zum Teil in der Dunkelheit verborgen. Doch was ich erkennen konnte, ließ mir den Atem stocken. Sein Haar war dunkel, und der Mantel, den er trug, war lang und schwarz und wehte leicht im kalten Wind.
Ich hatte ihn mir also doch nicht eingebildet.
„Sie ist …“ Ich konnte es nicht aussprechen.
Langsam kniete er sich neben Ava und untersuchte sie. Er musste sehen, was ich sah – den blutigen Kopf, den reglosen Körper, den unnatürlichen Winkel, in dem ihr Hals abgeknickt war. Doch statt panisch zu reagieren, sah er zu mir auf, und mich durchfuhr ein Schock. Seine Augen hatten die Farbe von Mondlicht.
Keine zwei Meter hinter mir hörte ich ein Rascheln. Erschrocken wandte ich mich um und sah eine schwarze Deutsche Dogge mit wedelndem Schwanz auf uns zukommen. Der Hund setzte sich neben den Fremden, und er kraulte ihn hinter den Ohren.
„Wie heißt du?“, fragte er ruhig.
Mit zitternden Händen strich ich mir das nasse Haar hinter die Ohren. „K-Kate.“
„Hallo, Kate.“ Seine Stimme hatte etwas Beruhigendes an sich, war fast melodisch. „Ich bin Henry, und das ist Cerberus.“
Jetzt, nachdem er näher gekommen war, konnte ich sein Gesicht sehen, und irgendetwas daran wirkte seltsam. Er
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