Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen
Einschätzung dessen, was möglich ist und was nicht.“
Wortlos sah ich zu ihm auf, und eine seltsame und unangenehme Spannung wuchs in mir. Ein Dutzend Fragen schwirrten in meinem Kopf herum, doch nur eine davon war von einem zarten Hoffnungsschimmer umgeben. Ich hatte Angst, wenn ich noch länger wartete, ihn danach zu fragen, würde auch dieser Schimmer erlöschen.
„Also war er real? Mein Traum mit meiner Mutter?“
Henry sah sehr zufrieden mit sich aus. „Hat es dir gefallen?“
„Ja.“ Ich zögerte. „War es … war es nur das eine Mal?“
„Nein.“ Er behielt mich ganz genau im Auge, als hätte er Angst, ich könnte in Ohnmacht fallen. Ich war mir nicht so sicher, ob er damit nicht recht hatte. „Für die Dauer deines Aufenthalts wirst du sie jede Nacht sehen können.“
Abwesend ließ ich den Blick über die Maserung des marmornen Springbrunnens gleiten, folgte den Wellen und Zickzacklinien im Gestein.
„Danke. Ich danke dir so sehr.“
„Es gibt keinen Grund, sich bei mir zu bedanken.“ Er klang verwirrt. „Ich habe dir gesagt, ich würde unsere Vereinbarung einhalten, und genau das tue ich.“
„Ich weiß.“ Aber niemals hatte ich damit gerechnet, ich würde mehr Zeit mit meiner Mom verbringen können. Nicht bloß an ihrem Bett, ihre Hand haltend und ständig darauf hoffend, dass sie irgendwann aufwachen würde. Nein, ich konnte mit ihr reden, als wäre sie nicht krank, als hätte es die vergangenen vier Jahre niemals gegeben. Es übertraf alles, was ich mir hätte erträumen können.
Doch wenn er seinen Teil des Handels erfüllte, hieß das, auch ich musste mein Versprechen einhalten. Und langsam, während mich eine abgrundtiefe Furcht erfüllte und lähmte, wurde mir klar, dass ich etwas versuchte, das vor mir noch niemand geschafft hatte. Irgendwie fühlte es sich an, als hätte ich mein eigenes Todesurteil unterzeichnet.
„Und was jetzt? Was muss ich tun?“
„Sei einfach du selbst.“ Sanft legte er mir die Hand auf die Schulter, wie er es bei Ava getan hatte. Anders als bei ihr schien er sich jedoch fast davor zu fürchten, mich zu berühren, und der Körperkontakt dauerte nur ein paar Sekunden.
„Die Prüfungen werden wahrscheinlich kommen, wenn du sie am wenigsten erwartest. Es ist nicht meine Aufgabe, sie durchzuführen, noch werde ich sie am Ende bewerten.“
„Ich bin nicht besonders gut bei Überraschungstests“, warnte ich ihn.
Er schmunzelte, und sein Lächeln durchströmte mich warmund wischte einen Teil meiner Furcht weg.
„Es sind nicht die Art von Prüfungen, bei denen dich ein Lehrer benoten würde. Sie dienen dazu, herauszufinden, wer du bist – nicht, was du in deinem Gehirn abgespeichert hast. Möglicher-weise erkennst du sie, während sie stattfinden, möglicherweise auch nicht. Aber sei einfach du selbst. Das ist alles, worum wir dich bitten können.“
Wieder spürte ich seine Finger auf meiner Wange. Diesmal wich ich nicht aus.
„Wozu die Prüfungen? Warum sind die notwendig?“
„Weil“, erklärte er langsam, „der Lohn etwas ist, das wir nicht leichtfertig vergeben, und wir müssen sicher sein, dass du damit umgehen kannst.“
„Womit?“
„Mit der Unsterblichkeit.“
Plötzlich bekam ich ein mulmiges Gefühl im Magen. Jetzt hatte ich also die Wahl, ewig zu leben oder zu sterben, während ich darum kämpfte. Irgendwie schien das nicht fair.
„Du wirst dich gut schlagen“, fügte er hinzu. „Das fühle ich. Und danach wirst du mir helfen, etwas zu tun, wozu niemand sonst in der Lage ist. Du wirst Macht jenseits aller Vorstellungskraft besitzen, und den Tod wirst du nie wieder fürchten. Du wirst niemals altern und für immer schön sein. Das ewige Leben wird dein sein, um damit zu tun, was immer dir gefällt.“
Ein Schauer überlief mich, und ich wusste nicht, ob es an der Art lag, wie er redete, an dem, was er sagte, oder daran, wie er mich ansah. Ewiges Leben ohne meine Mutter war etwas, über das ich nicht nachdenken wollte. Aber wenn er Ava zurück-bringen konnte …
„Vielleicht“, flüsterte er, „könntest du sogar schwimmen lernen.“
Das brach den Bann. Unwillkürlich musste ich kichern: „Wer’s glaubt.“
Er lächelte. „Vielleicht sind manche Dinge am Ende doch unmöglich.“
Nachdem Henry mich in das Frühstückszimmer zurückgebracht hatte, aß ich so schnell, dass ich das Essen kaum schmeckte, egal, wie köstlich alles aussah. Bergeweise gebutterter Toast, Haufen von knusprigem Frühstücksspeck,
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