Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen
helfe Ava, ein Zimmer zu finden.“
Ava war entrüstet. „Ich bin kein Kleinkind. Du musst mich nicht an die Hand nehmen.“
„Schon gut, Calliope“, sagte ich seufzend. „Das kann ich über-nehmen, sobald wir hier fertig sind. Ich muss das Anwesen sowieso noch genauer kennenlernen. Du kannst mitkommen, wenn du willst.“
„Kein Problem“, gab Irene leicht verärgert zurück. „Lies einfach bis morgen die Seiten, die ich dir markiert habe. Ich lasse dir das Buch in dein Zimmer bringen.“
Ich nickte und wusste nicht, was ich sagen sollte. Als ich Avaansah, bekam ich stechende Schuldgefühle. Es war meine Schuld, dass sie hier war und sich mit all dem herumschlagen musste. Ella mochte sich mit niemandem vertragen, aber ich musste dafür sorgen, dass es für Ava nicht vollkommen furchtbar wurde. Bloß weil ich hier gefangen war, sollte sie nicht denselben Preis zahlen müssen.
Der Rest des Vormittags verlief kaum besser und der Nachmittag sogar hundertmal schlimmer. Nach dem Mittagessen schloss Ella sich uns wie ein stummer Schatten an, während wir durch das Anwesen wanderten. Die Spannung, die von ihr ausging, war äu-ßerst unangenehm. Dem Himmel sei Dank, dass sie nach ein paar gut gezielten Seitenhieben entschlossen schien, Ava vollständig zu meiden – und Ava sie konsequent ignorierte.
Es war tröstlich, Ava bei mir zu haben. Sie war ein vertrautes Stück Realität, an dem ich mich festhalten konnte. Der Beweis für mich, dass all das hier nicht bloß eine atemberaubende Illusion war. Durch sie fiel es mir leichter, zu glauben, dass ich nicht dabei war, verrückt zu werden. Vielleicht hatte Henry darauf gezählt.
Während wir durch die Flure spazierten und unzählige Räume erkundeten, blieb ich dicht bei Ava. Ihr schien es nichts auszumachen, und sie nahm sogar meinen Arm und führte mich von Ort zu Ort, beschrieb jedes Zimmer, das wir betraten, als wollte sie mir das Haus verkaufen. Calliope stieg mit ein, doch Ella hielt weiterhin Abstand. Trotz der Spannungen hatte ich eigentlich Spaß. Erst als wir zurück in meiner Suite waren, wurde der Nachmittag zum Albtraum – schon durch die Nachricht, die Sofia überbrachte.
„Ein Ball?“, wiederholte ich, und das Herz rutschte mir in die nicht vorhandene Hose. „Sie meinen mit Tanzen und allem Drum und Dran?“
Den anderen schien das gar nichts auszumachen. Calliope lachte vergnügt, und selbst Ella sah aufgeregt aus.
„Ein richtiger Ball?“, jubelte Ava und klatschte, während sie auf und ab hüpfte, in die Hände. „Ich hab nichts zum Anziehen –was soll ich bloß machen?“
„Den nächsten Schrank plündern?“, schlug Ella vor. Wir ignorierten sie beide.
„Ein formeller Ball morgen Abend“, fuhr Sofia fort, „vom Rat zu deinen Ehren ausgerichtet. Bisher war er meistens für die Wintersonnenwende angesetzt, aber da du die Letzte bist und alle so gespannt darauf sind, dich kennenzulernen, wurde er vorverlegt.“
„Du meinst, es hat nichts damit zu tun, dass die Hälfte der Mädchen auf ihrem Ball umgebracht wurde und Henry sichergehen wollte, dass sie ihn überlebt, bevor er mehr Zeit in sie investiert?“, fragte Ella unschuldig.
Sofia warf ihr einen strafenden Blick zu und wandte sich wieder an mich. „Sieh es als deine Einführung in die Gesellschaft.“
Ich holte tief Luft und versuchte zu ignorieren, was Ella gesagt hatte. Henry würde das nicht zulassen. Nicht wenn ich seine letzte Chance war.
„Ich muss nicht in die Gesellschaft eingeführt werden. Die Gesellschaft und ich sind jahrelang wunderbar ohne einander ausgekommen, danke.“
„Und diesmal wird der gesamte Rat da sein?“, hakte Calliope nervös nach.
„Das ist Henrys letzter Versuch“, erinnerte Ella sie und schnitt eine Grimasse. „Hast du wirklich je daran gezweifelt, dass sie sie alle kennenlernen wollen?“
„Wer ist der Rat?“, fragte ich. „Warum ist er so beängstigend?“
„Ist er nicht“, versetzte Ella und ließ sich in einen Sessel fallen. Sie hielt weiterhin Abstand. „Der Rat besteht aus Henrys Familie. Seinen Brüdern und Schwestern und Neffen und Nichten, obwohl er und seine Geschwister nicht wirklich blutsverwandt sind. Es ist mehr, als hätten sie sich gegenseitig adoptiert, weil sie denselben Schöpfer haben und die ursprünglichen sechs Götter sind, aber so bezeichnen sie einander nun mal. Die Beschreibung ist so gut wie jede andere.“
„Ihr meint Zeus und so?“, mischte sich Ava von ihrem Platz auf meinem Bett ein.
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