Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen
kennt euch noch gar nicht?“ Henry klang erstaunt. Er stand auf und winkte den Mann, der sich im Hintergrund gehalten hatte, nach vorn. Theo bewegte sich zielgerichtet, und etwas an ihm machte unmissverständlich klar, dass er sich sehr ernst nahm.
„Kate, das ist Theo, mein oberster Wachoffizier. Seine Aufgabe ist es, ein Auge auf alles zu haben, was auf Eden Manor geschieht. Theo, das ist Kate Winters.“
„Es ist mir ein Vergnügen“, erwiderte Theo und senkte den Kopf zu einer Verbeugung. Erschöpft lächelte ich ihn an und streckte die Hand aus. Vorsichtig schüttelte er sie, als hätte er Angst, ich könnte zerbrechen. Seine Handfläche war glatter als meine.
„Ebenfalls erfreut, dich kennenzulernen“, gab ich zurück. „Ava spricht viel von dir.“
„Tu ich gar nicht“, protestierte Ava. Sie sah Theo an und runzelte die Stirn. „Wirklich nicht.“
„Oh doch“, beharrte ich, und Theo grinste. Zwischen ihm und Ella bestand nicht die geringste Ähnlichkeit, soweit ich erkennen konnte.
„Komm, lass uns gehen.“ Beleidigt zog Ava an seinem Arm.
Ich spürte, dass ich ihren Stolz verletzt hatte, und als sie mir auf dem Weg nach draußen einen Blick über die Schulter zuwarf, zuckte ich entschuldigend mit den Schultern.
„Nächstes Mal komme ich mit, versprochen.“
„Was auch immer“, erwiderte sie und zog Theo mit sich. Er schaffte noch eine knappe Verbeugung in Henrys Richtung, bevor er das Zimmer verließ und ich allein war mit Henry und Calliope, die immer noch an der Tür verweilte.
„Dann sehen wir uns wohl morgen“, brachte sie hervor. Ihre Wangen glühten.
„Morgen“, wiederholte ich und zwang mich zu einem Lächeln. Damit konnte ich keinem etwas vormachen. Selbst ich hörte dieNervosität in meiner Stimme.
Als Calliope fort und die Tür wieder geschlossen war, stand Henry auf und ging durchs Zimmer zu dem großen Erkerfenster. Nachdenklich blickte er in die tintenschwarze Nacht und winkte mich zu sich.
„Henry, ich kann nicht“, erklärte ich seufzend. „Ich muss lernen.“
„Ich werde Irene bitten, die letzten hundert Seiten nicht abzufragen“, entgegnete er. „Jetzt komm her, und setz dich mit mir hin. Bitte.“
„Ich glaub nicht, dass sie sich darauf einlässt“, murmelte ich, doch ich tat, worum er mich gebeten hatte. Meine Füße schlurften über den Teppich, und mein Kopf fühlte sich an, als sei er zu schwer für meinen Körper, doch irgendwie schaffte ich es auf die andere Seite des Zimmers, ohne zusammenzuklappen.
Als ich neben ihm stand, legte er beschützend den Arm um mich, und wieder überlief mich ein angenehmer Schauer. Dies war der engste körperliche Kontakt zwischen uns seit meiner Ankunft, und es fiel mir erstaunlich leicht, mich an ihn zu lehnen und von ihm stützen zu lassen.
„Sieh nach oben“, forderte er mich auf und legte den Arm fester um meine Schultern, als ich mich an seiner Seite entspannte. Ich blickte zur Decke, doch im schwachen Kerzenlicht konnte ich nichts erkennen. Er lachte leise. „Nein, ich meine den Himmel. Sieh dir die Sterne an.“
Mein Gesicht wurde rot vor Scham, und ich richtete den Blick auf den schwarzen Himmel draußen vor dem Fenster, wo ich die weißen Lichtpunkte gerade so ausmachen konnte.
„Sie sind schön.“
„Das sind sie“, stimmte er mir zu. „Wusstest du, dass sie wandern?“
„Sterne? Klar.“ War das nur eine weitere Unterrichtsstunde? „Zu unterschiedlichen Jahreszeiten sieht man unterschiedliche Sterne.“
Behutsam zog er mich mit sich auf die Bank vor dem Fenster,so nah an sich heran, dass ich praktisch auf seinem Schoß saß, doch in seiner Nähe zu sein fühlte sich besser an, als ich mir eingestehen wollte. Ich war noch nicht bereit, dieses Gefühl aufzugeben.
„Nicht durch die Jahreszeiten“, erklärte er. „Durch die Jahrtausende. Siehst du den Stern dort?“ Er deutete nach oben, und ich konnte kaum die Richtung erkennen, in die er wies, und erst recht nicht, über welchen Stern er sprach.
„Ja“. Falls er wusste, dass ich log, tat er mir den Gefallen, es zu ignorieren.
„Als ich Persephone kennenlernte, gehörte dieser Stern noch nicht zu diesem Sternbild.“
„Wirklich?“ Mein übersättigter Verstand konnte diese Aussage kaum verarbeiten, geschweige denn verstehen, was deren tiefere Bedeutung war. „Hätte ich nicht gedacht.“
„Alles ändert sich mit der Zeit.“ Henrys Atem kitzelte mein Ohr. „Man muss nur geduldig sein.“
Genau, dachte ich, alles ändert
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