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Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen

Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen

Titel: Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aimée Carter
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sich mit der Zeit. Das war schließlich das Problem, oder?
    Doch was auch immer Henry vorgehabt hatte, um mich von der Prüfung abzulenken, es funktionierte. In dieser Nacht zerbrach ich mir nicht den Kopf über Nymphen und Helden, sondern spazierte mit meiner Mutter durch den Central Park. Wir gingen in den Zoo und fuhren Karussell, bis wir vor Lachen kaum noch Luft kriegten. Ich schlief besser als seit Tagen, und als ich aufwachte, lag ein Lächeln auf meinen Lippen.
    Beim Frühstück war ich zu nervös, um zu essen, doch Calliope zwang mich trotzdem, ein Stück Toast mit Erdbeermarmelade hinunterzuwürgen. Selbst das drohte wieder hochzukommen, als ich zum Unterrichtsraum ging, und es brauchte all meine Willenskraft, um es nicht wieder auszuspucken.
    Ich konnte das schaffen. Henrys Schicksal hing von mir ab, und er würde niemals zulassen, dass sie mich absichtlich durchfallen ließen, ohne mir eine faire Chance zu geben. Ich hatte gelernt,und es war schließlich keine Kernphysik. Es war Mythologie. Wie schwer konnte das schon sein?
    „Bereit?“, fragte Irene, als ich mich setzte.
    „Nein“, gab ich zurück. Dafür würde ich nie bereit sein. Statt auch nur das kleinste bisschen Mitgefühl zu zeigen, lachte sie und legte die Prüfung vor mich hin. Ich hatte einen Kloß im Hals, während ich zur letzten Frage blätterte. Es waren ganze zwanzig Seiten.
    „Zweihundert Fragen“, erklärte sie, als hätte sie meine Gedanken gelesen. „Du darfst bei maximal zwanzig danebenliegen.“
    „Wie lange habe ich Zeit?“, fragte ich nervös.
    „Solange du brauchst.“
    Ihr freundliches Lächeln beruhigte mich nicht im Geringsten. Ich nahm all meinen Mut zusammen, griff nach dem Bleistift und begann.
    Drei Stunden später saß ich angespannt in einer Ecke, während Irene meine Prüfung durchsah. Wieder und wieder war ich jede einzelne Frage im Kopf durchgegangen und hatte meine Antworten darauf angezweifelt. Was, wenn ich Athene und Artemis durcheinandergebracht hatte? Hera und Hestia? Was, wenn ich zu viel gelernt hatte und mir aus Versehen die Orte und Geschichten und komplizierten Zeitverläufe durcheinandergeraten waren?
    Was, wenn ich versagt hatte?
    Irene legte ihren Stift nieder, das Gesicht ausdruckslos, als sie durch den Raum auf mich zukam und mir den Test überreichte. Die Hände zitterten mir so stark, dass ich Angst hatte, ich würde ihn fallen lassen, und nichts in ihrem Ausdruck verriet, wie ich mich geschlagen hatte. Ich zwang mich, auf die Blätter zu sehen. Für einen langen Moment wollten meine Augen die Zahl nicht erkennen, die oben notiert war.
    173.
    „Es tut mir leid“, sagte sie, doch ich hörte sie nicht. Stattdessen stolperte ich zur Tür und aus dem Zimmer, mein Blick zu tränen-verschleiert,als dass ich hätte sehen können, wohin ich lief. Fast ohne sie zu bemerken, flog ich förmlich an Calliope und Ella vorüber und stürmte durch die erstbeste Tür nach draußen in den Garten. Ich ignorierte die Stimmen, die nach mir riefen, zog mir die Schuhe aus und rannte auf den Wald zu.
    Ich hatte versagt.

11. KAPITEL
    VERSAGEN
    Ich konnte nicht atmen.
    Mitten im Wald, wenn auch immer noch auf dem Gelände von Henrys Anwesen, brannten mir die Lungen, und mein Körper schmerzte von der Anstrengung des Laufens. Die Außenhecken waren nirgends in Sicht, aber das war es nicht, wonach ich suchte. Ich wollte den Fluss finden.
    Sieben Punkte hatten mir zum Bestehen des Tests gefehlt – sieben Fragen, die den Unterschied zwischen Erfolg und Versagen ausmachten, bleiben und gehen, Leben und Tod für meine Mutter. Leben und Tod für Henry. Es spielte keine Rolle, wie wohl ich mich hier fühlte oder ob ich es mochte, in seiner Nähe zu sein. Hätte er bloß jemanden gewollt, der die Zeit mit ihm verbrachte, hätte er jeden auswählen können, doch er hatte mich gewählt – für ihn hing alles von mir ab –, und ich hatte ihn im Stich gelassen. Diese Prüfungen zu bestehen war der einzige Grund, aus dem ich hier war, und nicht einmal das hatte ich geschafft.
    Ich weiß nicht, wie lange ich so durch den Wald lief. Meine Füße waren aufgeschürft und blutig, und mehr als einmal stolperte ich, knickte um oder fiel auf Ellbogen und Knie, doch ich lief weiter, immer weiter.
    Ich hatte versagt. Es war vorbei, und ich würde keine zweite Chance bekommen.
    Ich musste meine Mutter sehen, bevor sie starb, musste ihr Lebewohl sagen, selbst wenn sie mich in diesem Körper nicht mehr hören konnte. Es würde

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