Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen
ein Wort herausbringen konnte.
„Und was, wenn er mir wehtut?“
„Dann bin ich mir sicher, du wirst irgendetwas getan haben, womit du es dir verdient hast.“
Von diesem Morgen an hielten Ella und Ava es kaum in einem Raum miteinander aus. Ich konnte ihnen keine Vorwürfe machen.
Langsam richtete ich mich ein in meiner neuen Realität, und Henry hatte recht. Als ich endlich akzeptiert hatte, dass das alles vielleicht doch kein riesiger irrsinniger Scherz war, fielen mir einige Dinge wesentlich leichter. Außerdem überanstrengte ich mein Gehirn nicht ständig mit dem Versuch, das Unbegreifliche zu verstehen.
Während mir der Gedanke an meine Wachen und Calliope als Vorkosterin immer noch nicht gefiel – letzteren Job versuchte Ella unermüdlich Ava aufs Auge zu drücken –, half es, mir vorzustellen, ich säße im achtzehnten Jahrhundert fest. Damit ließ sich alles erklären – außer meiner seltsamen Beziehung zu Henry.
Als die Wochen verstrichen, wurde der Abend schnell zu meinem liebsten Teil des Tages. Nicht zuletzt, weil ich dann endlich nicht mehr zuhören musste, wie Ella und Ava sich zankten. Wir unterhielten uns darüber, was ich den Tag über gemacht hatte, und auch wenn Henry versuchte, mich abzulenken, entging mir nicht, dass er nie von seinem Tag erzählte. Ich brachteihm meine liebsten Kartenspiele bei, und es schien ihm Spaß zu machen, Neues zu lernen. Immer wieder stellte er mir höfliche Fragen und unterbrach meine ausschweifenden Antworten kein einziges Mal. Manchmal brachte ich den Mut auf, ihm ebenfalls Fragen zu stellen, auf die er, wenn überhaupt, nur vage antwortete. Er weigerte sich weiterhin, mir zu sagen, woraus die Prü-fungen bestanden, doch zu seiner Verteidigung musste ich zugeben, dass er sich große Mühe gab, mir alles so angenehm wie möglich zu machen.
Alles an meinem Tagesablauf war durchgeplant. Eine halbe Stunde fürs Frühstück, bei dem es immer meine Lieblingsspeisen gab. Ich nahm nicht zu, und das war für mich die perfekte Ausrede, so viel zu essen, wie ich wollte. Nach dem Frühstück hatte ich fünf Stunden Unterricht, in denen es um Mythologie ging, Kunst, Theologie, Astronomie – alles, wovon Irene dachte, ich müsste es wissen. Im Unterricht zu träumen war keine Option, da ich ihre einzige Schülerin war, und nach einer Weile brachte sie erstaunlich wenig Mitgefühl auf für das, was mich interessierte oder nicht interessierte. Einen Vorteil hatte das Ganze: Mathe stand nicht auf dem Stundenplan.
Einen außerordentlich großen Teil der Zeit verbrachten wir mit den Olympiern, den griechischen Göttern, die über das Universum herrschten und über mein Schicksal entscheiden würden.
„Die meisten Leute denken, es hätte nur zwölf gegeben“, hatte Irene erklärt. „Aber wenn man sorgfältig durch die Geschichte geht, sind es vierzehn.“
Die Bedeutung dieser Zahl war mir nicht entgangen. Vierzehn Olympier und vierzehn Throne. Sie waren diejenigen, die über meine Zukunft entscheiden würden, und deshalb passte ich im Unterricht über sie besonders auf, als würde es mir irgendeinen Vorteil verschaffen, alles über sie zu wissen, was es zu wissen gab.
Ich lernte alles über Zeus und Hera und ihre Kinder, über die Kinder, die Zeus mit anderen Frauen gezeugt hatte, sowie über Athene, die voll ausgewachsen aus seinem Kopf gesprungen war. Auch erfuhr ich alles über Demeter und ihre Tochter Persephoneund über die Rolle, die Hades gespielt hatte. Das war Henry, wie meine Mutter erwähnt hatte, und es war seltsam, zu versuchen, die Mythen mit dem Wissen in Einklang zu bringen, dass sie für diese Personen Realität waren. Dass Henry all diese Dinge offenbar wirklich getan hatte. Doch je mehr ich lernte, desto leichter fiel es mir, es zu akzeptieren. Als Irene endlich der Meinung war, ich wüsste so viel wie nur irgend möglich über die Ratsmitglieder, gingen wir über zu anderen Mythen. Doch auch in diesen Geschichten waren die Olympier allgegenwärtig, und das half nicht unbedingt dabei, meine Nerven zu beruhigen.
Die Nachmittage durfte ich verbringen, wie ich wollte. Manchmal blieb ich drinnen und las oder verbrachte Zeit mit Ava, und manchmal ging ich nach draußen und erkundete das Gelände. Hinter der Hecke um dem kunstvoll gestalteten Garten lag ein Wald, der sich bis an das hintere Ende des Grundstücks erstreckte, wo er den Fluss verbarg, von dem ich wusste, dass er dort verlaufen musste. Ich blieb immer in Sichtweite des Anwesens; dem
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