Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen
Wasser wollte ich nicht zu nahe kommen. Dort am Ufer hatte ich genug Aufregung gehabt, sodass ich sicher noch für sehr lange Zeit nicht den Wunsch verspüren würde, dorthin zurückzukehren.
In den letzten Oktobertagen traf ich auf Phillip, den Stallmeister. Er war ein schroffer Mann, der nicht viel redete und mit seinem wild zerzausten Haar einschüchternd aussah, doch seine Pferde schien er leidenschaftlich zu lieben.
„Pferde haben genauso viel Persönlichkeit wie Menschen“, brummelte er, als er mir die fünfzehn Tiere in den Stallungen vorstellte. „Wenn du zu ’nem Pferd keine Verbindung spürst, versuch es nicht zu erzwingen. Das wär, als wolltest du ’ne Freundschaft erzwingen – unangenehm und sinnlos, und beiden würd’s dabei schlecht gehen. Solange du das im Hinterkopf behältst, kriegst du keine Probleme.“
Seine Hengste waren kraftvoll und schnell, und bei meinem Glück wäre ich bloß gefallen und hätte mir etwas gebrochen. Also genoss ich es, meine Zeit damit zu verbringen, sie zu striegelnund zu pflegen, aber ich fragte nie, ob ich sie reiten dürfte. Anfangs ließ Phillip mich mit einer Bürste in der Hand nicht einmal in ihre Nähe, doch ich nahm es nicht persönlich. Er ließ niemanden in ihre Nähe. Schon dass er mich in die Stallungen ließ, um sie zu sehen, war mehr, als Ava von sich behaupten konnte. Bei meinem dritten Versuch jedoch gab er mir widerwillig die Erlaubnis, beim Striegeln zu helfen, solange er ein Auge auf mich hatte. Ich hatte den leisen Verdacht, dass Henry etwas mit diesem Sinneswandel zu tun hatte, aber ich fragte nicht nach. Den restlichen Herbst über verbrachte ich so meine Nachmittage, und während es draußen immer kälter wurde, blieb es in den Stallungen warm.
Die Zeit verging, und langsam fühlte ich mich wohl in meinem neuen Zuhause. Die Bediensteten hatten aufgehört, mich anzustarren, wenn ich vorbeiging, und nach und nach gewöhnten wir uns aneinander. Es war fast friedvoll, wie ich die Vormittage mit Irene verbrachte, die Nachmittage mit Phillip und Ava und die Abende mit Henry. Und die Nächte – ich lebte für die Nächte, wenn ich meiner Mutter alles erzählte, was ich erlebt hatte, und sie bei mir war und zuhörte. Hinter der Hecke lag sie im Sterben, doch in meinen Träumen war sie noch überaus lebendig, und ich wollte, dass es noch sehr, sehr lange so blieb. Ich wusste, ich würde der düster wartenden Realität nicht entkommen können, wenn das hier erst vorüber war. Doch für den Moment konnte ich so tun, als würde mein Leben auf Eden Manor bedeuten, dass die Welt draußen nicht existierte.
Es war ein Freitag Mitte November, als Irene ankündigte, am kommenden Montag würde die erste Prüfung anstehen. Als ich endlich aus dem Unterrichtsraum kam, war mir vor Aufregung fast übel, und offensichtlich war mir das anzusehen.
„Kate?“, fragte Calliope besorgt, als ich die Tür hinter mir schloss.
„Eine Prüfung“, brachte ich kleinlaut hervor. „Am Montag.“
Sie wirkte nicht besonders besorgt.
„Hast du noch nie einen Test geschrieben?“
Ich schüttelte den Kopf. Sie hatte mich nicht verstanden.
„Prüfung“, wiederholte ich. „Die Art Prüfung, in der meine gesamte Zukunft auf dem Spiel steht. Wenn ich versage …“
Calliopes Augen wurden groß.
„Oh. Die Art Prüfung.“
„Genau.“ Ich machte mich auf den Weg in mein Zimmer, kein Interesse mehr am Mittagessen. Mein Appetit hatte sich in Luft aufgelöst.
„Äh, Kate? Zum Speisezimmer geht’s hier lang. Sie haben Brathähnchen für dich gemacht.“
Ich hörte, wie sie in einen Laufschritt verfiel, um mit mir Schritt zu halten, aber ich wurde nicht langsamer.
„Ich muss lernen.“ Wenn ich versagte, wäre alles, was ich bisher getan hatte, sinnlos. Meine Mutter würde sterben, Henry würde seinen Platz als Herrscher von was auch immer verlieren, und Avas Tod wäre vergebens gewesen. Ich hatte nicht vor, das geschehen zu lassen.
Die nächsten zwei Tage steckte ich meine Nase so tief in die griechische Mythologie – oder „Geschichte“, wie es hier alle zu nennen schienen –, dass selbst Henry mich abends in Ruhe ließ. Statt ins Speisezimmer zu gehen, wurden mir meine Mahlzeiten gebracht, doch ich aß so schnell, dass ich kaum etwas schmeckte. Ich schlief genau acht Stunden und keine Minute länger, aber selbst im Schlaf fragte mich meine Mutter ab. Ich lernte die zwölf Arbeiten des Herkules auswendig, die Namen der neun Musen und die Plagen, die aus
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