Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen
reichen müssen – ich hatte meinen Teil der Vereinbarung gebrochen, für Henry gab es keinen Grund, seinen weiterhin zu erfüllen. Es gab keine Garantie mehr, dass ich sie sehen würde, wenn ich einschlief, und ich musste mich von ihr verabschieden, bevor es zu spät war.
Endlich fand ich ihn – den Fluss, an dem dieses ganze Desaster seinen Lauf genommen hatte. Da ich mir den Knöchel verstauchthatte, humpelte ich stromaufwärts, bis ich an der Hecke mit dem kleinen Durchlass ankam. Das Loch sah schmaler aus, als ich es in Erinnerung hatte, und ich hatte keinen Schimmer, wie ich auf die andere Seite gelangen sollte, aber ich musste es schaffen. Bei Henry würde ich mich später entschuldigen.
Mit dem Handrücken wischte ich mir über die schmutzigen, tränenbefleckten Wangen, setzte meinen bloßen Fuß ins Wasser und sog scharf die Luft ein. Es war eiskalt. Die Strömung war stark, und ich wusste, wenn ich ausglitt und fiel, wäre ich nicht in der Lage, mich schwimmend ans Ufer zu retten. Diesmal nicht. Trotzdem musste ich es versuchen. Einen Fuß vor den anderen zu setzen, das war alles, was ich tun musste.
„Kate.“
Beim Klang von Henrys Stimme fiel ich beinahe vornüber. Ich war einen guten Meter vom Ufer entfernt und balancierte wacklig auf denselben glitschigen Steinen, die Ava das Leben gekostet hatten, und nur mit Mühe konnte ich mich halten.
„Lass mich in Ruhe.“ Es klang nicht annähernd so biestig, wie ich es beabsichtigt hatte.
„Ich fürchte, das kann ich nicht.“
„Ich hab versagt.“ Ich wagte nicht, mich umzudrehen, um ihn anzusehen.
„Ja, Irene hat es mir erzählt. Das erklärt trotzdem nicht, warum du Kopf und Kragen riskierst, um durch ein Loch in der Hecke zu kriechen. Wenn du gehen willst, ist das Eingangstor wesentlich praktischer.“
Meine Füße waren taub, jede Bewegung fiel mir schwer.
„Ich muss meine Mutter sehen.“
Ohne Vorwarnung schlang Henry mir den Arm um die Taille und zog mich an sich. Bevor ich protestieren konnte, berührten meine Füße wieder trockenen Boden.
„Lass mich los!“
Er hielt mich lange genug im Arm, dass ich mein Gleichgewicht wiederfinden konnte. Ich wich vor ihm zurück, zitternd, doch ich wusste nicht, ob vor Kälte oder vor Wut.
„Wenn du gehst“, erklärte er geduldig, „wird deine Mutter sterben. Ich dachte, das wolltest du nicht.“
Sprachlos öffnete und schloss ich mehrmals den Mund.
„Aber … aber ich bin durchgefallen!“
Ungläubig sah er mich an. „Ich bin nicht so streng, dass ich ein Versagen mit dem Tod bestrafe.“
„Aber unsere Vereinbarung – du hast gesagt, du hältst meine Mutter am Leben, solange ich hier bin. Ich kann nicht bleiben, nicht wenn ich die Prüfung nicht bestanden habe.“
Henry hielt inne, und dann wurde sein Ausdruck sanft, als er endlich verstand.
„Kate … Ist das alles, worum es hier geht?“
„Du hast selbst gesagt, ich dürfte bei keiner der Prüfungen durchfallen“, erinnerte ich ihn unsicher.
„Du darfst bei keiner der sieben Prüfungen versagen, vor die der Rat dich stellt. Der Test, den Irene mit dir gemacht hat, war keine davon.“ Die Andeutung eines Lächelns huschte über sein Gesicht. „Bisher schlägst du dich ganz wunderbar.“
Mein Mund wurde trocken. „Bisher?“
„Ja.“ Er wirkte amüsiert, und ich wusste nicht, ob ich erleichtert sein oder das dreckige Grinsen von seinem Gesicht wischen sollte. „Bisher hast du drei Prüfungen angetreten. Nur eine ist abgeschlossen, aber du warst untadelig.“
Wie konnte es sein, dass sie mich ohne mein Wissen geprüft hatten? Als ich den Mund öffnete, um ihn zu fragen, kam er mir zuvor.
„Du musst am Erfrieren sein – hier.“ Er legte mir seinen Mantel um die Schultern, und ich klammerte mich daran fest, sog die Wärme in mich auf. „Lass uns zurückgehen – was hältst du davon?“
Ich nickte, und langsam legte sich meine Hysterie. Vorsichtig nahm Henry mich in den Arm, als hätte er Angst, ich könnte zerbrechen.
„Schließ die Augen“, murmelte er, und ich gehorchte.
Als ich sie diesmal wieder öffnete, war ich wenig überrascht,mich in meinem Zimmer wiederzufinden. Henry stand neben mir.
„Wie ich sehe, gewöhnst du dich langsam an meine Art zu reisen.“
„Mhm.“ Ich schluckte. Eine gewisse Desorientierung brachte es immer noch mit sich. „Ich sollte … ähm …“ Mit einer Handbewegung fasste ich den Zustand meines Kleids zusammen. Es war zerrissen und schlammverkrustet.
„Das ist
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