Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen
Stück, sodass sein Profil sichtbar wurde, und es tat mir weh, als ich sah, dass seine Augen rot waren.
Doch es war nicht er, der sprach. Die zweite Stimme war höher als seine, aber trotzdem männlich und vertraut, und wer auch immer es war, sprach leise und angespannt.
„Du kannst sie nicht hierbehalten.“ Ich konnte den Sprechernicht sehen, doch ich war mir sicher, dass ich die Stimme kannte. „Das war Teil der Abmachung. Du kannst sie nicht zwingen, zu bleiben, wenn sie nicht will.“
Ich rückte noch näher an die Tür. Unter meinem Fuß knarrte eine Bodendiele, und ich erstarrte. Henry hielt inne, und mein Herz klopfte so laut, dass ich mir sicher war, er müsste es hören. Doch einige Schrecksekunden später ergriff er das Wort, und ich atmete aus.
„Sie wollte nicht gehen“, erklärte er müde. „Sie dachte, unsere Abmachung sei hinfällig, weil sie den Test nicht bestanden hatte.“
„Trotzdem: Du hast sie aufgehalten“, beharrte der andere. Seine Stimme war schmerzhaft vertraut, und dennoch vermochte ich sie nicht zuzuordnen. „Zweimal hat sie dir gesagt, du sollst sie in Ruhe lassen, und du hast sie ignoriert.“
„Weil sie es nicht verstanden hat.“ Wütend blickte Henry über die Schulter zu jener Stelle hinter der Tür, wo der andere stehen musste.
„Das spielt keine Rolle.“ Es klang bösartig, und ich suchte Avas Blick, doch sie hatte sich ein wenig in den Flur zurückgezogen. „Du hast sie davon abgehalten, zu gehen.“
„Wir können die ganze Nacht streiten, aber Fakt bleibt, dass sie das Gelände nicht verlassen hat“, erwiderte Henry. „Du hast kein Recht, von den anderen Ratsmitgliedern zu verlangen, die Vereinbarung zu lösen.“
„Das habe ich, und das werde ich.“ Ein Schatten strich über mich hinweg, und ich schrak zurück. „Ich werde nicht zulassen, dass du sie zwingst, zu bleiben, wie du es bei Persephone getan hast. Sie ist nicht deine Gefangene, und du bist nicht ihr Wächter. Du kannst sie nicht in diese Situation zwingen und dann so tun, als wärst du überrascht, wenn sie dich so sehr hasst, dass sie nur noch weg will.“
Seine Worte waren voller Bosheit, und seine Stimme klang giftig. Auf der anderen Seite des Raums verspannte Henry sich, entgegnete jedoch nichts. Das Bedürfnis, das Wort für ihn zu ergreifen, war übermächtig, und mit aller Macht wollte ich demUnbekannten an den Kopf werfen, was für ein Idiot er war. Dass ich geblieben war, um Henry zu helfen, nicht weil er mich gezwungen hatte. Doch die Worte erstarben auf meinen Lippen. Seit Monaten waren mir Antworten vorenthalten worden. Eine solche Chance, sie endlich zu erhalten, konnte ich mir nicht entgehen lassen.
„Du musst sie gehen lassen“, fuhr der Unbekannte fort, jetzt etwas ruhiger. „Persephone hat dich nicht geliebt, und du kannst sie nicht ersetzen, egal, wie gründlich du suchst. Selbst wenn du es könntest, ist Kate nicht die Richtige.“
„Sie könnte es sein.“ Henrys Worte klangen erstickt. „Meine Schwester glaubt, dass sie es ist.“
„Meine Tante ist zu geblendet von Schuld und ihrer Entschlossenheit, die Situation zu klären. Bitte, Henry.“ Wieder knarrte der Fußboden, als der Unbekannte auf Henry zutrat. Jetzt konnte ich seinen Arm sehen, und er trug eine schwarze Jacke, die für November viel zu dünn war. „Lass sie gehen, bevor sie auch stirbt. Wir wissen beide, dass es nur eine Frage der Zeit ist, und wenn dir auch nur das kleinste bisschen an ihr liegt, entlässt du sie, bevor sie ein weiteres Opfer wird.“ Er hielt inne, und ich hielt den Atem an. „Elf Mädchen sind deinetwegen bereits gestorben. Erspar Kate ein ähnliches Schicksal, bloß weil du so selbstsüchtig bist.“
Nur wenige Zentimeter von mir entfernt ertönte plötzlich das Geräusch splitternden Glases. Ich keuchte und stolperte vor Schreck zurück, und in meiner Hast verdrehte ich mir den Knö-chel erneut. Mir entfuhr ein Schmerzensschrei, während ich zu Boden fiel. Die Tür öffnete sich, und alles Blut wich mir aus dem Gesicht, als ich sah, wer auf der anderen Seite stand.
James.
12. KAPITEL
JAMES
„Du gehörst auch dazu?“ Meine Stimme war heiser, und ungläubig starrte ich James an. Er sah genauso aus, wie ich mich an ihn erinnerte – abstehende Ohren, das blonde Haar total zerwühlt, die riesigen Kopfhörer um den Nacken gehängt.
„Kate …“, setzte er an, doch da erschien Henry in der Tür und stieß James zur Seite. Als Henry mir die Hand entgegenstreckte,
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