Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen
Funktioniert fast genauso gut.“
Nach kurzem Zögern setzte er sich neben mich, und ich rückte ein Stück, um ihm Platz zu machen. Einen Moment lang rutschte er hin und her und wirkte etwas peinlich berührt, doch schließ-lich machte er es sich bequem.
„Machst du das jedes Jahr mit deiner Mutter?“, fragte Henry. „Die Kissen zusammentragen und die Lichter betrachten?“
„Normalerweise.“ Ich trank noch einen Schluck Kakao. „Die letzten drei Jahre war sie Weihnachten im Krankenhaus, aber wir haben uns immer zu helfen gewusst. Habt ihr bei der Durchsuchung was gefunden?“
„Nein“, antwortete er. „Aber das Personal hatte sein Festmahl, wie versprochen.“
Ich nickte, und Henry neben mir war still und angespannt. Aber wenigstens war er da. Ich starrte auf den Baum, bis mir die Lichter vor den Augen verschwammen.
„Wie ist es, tot zu sein?“
Ich wurde rot, als mir bewusst wurde, womit ich da herausgeplatzt war. Dass er nicht sofort antwortete, machte es nur noch schlimmer.
„Keine Ahnung“, antwortete er schließlich. „Weil ich ebenso wenig weiß, wie es ist, lebendig zu sein.“
Ich presste die Lippen aufeinander. Richtig. Ich vergaß es immer wieder.
„Aber wenn du möchtest“, fuhr er fort, „kann ich dir vom Tod erzählen.“
Verwirrt blickte ich zu ihm auf. „Wo liegt der Unterschied?“
„Der Tod ist der Prozess des Sterbens. Tot sein ist das, was stattfindet, nachdem der Tod geschehen ist.“
„Oh.“ Ich hatte immer vermieden, darüber nachzudenken, wie meine Mutter tatsächlich sterben würde – ob es schmerzhaft sein würde, ob es ein helles Licht gäbe oder ob sie es über-haupt realisieren würde. Doch aus Henrys Mund wäre es keineSpekulation. „Ja, bitte?“
Vorsichtig streckte er den Arm aus, und zu meiner Überra-schung legte er ihn mir um die Schultern. Er war immer noch angespannt, doch es war der engste Kontakt, den es seit Wochen zwischen uns gegeben hatte.
„Es ist nicht so schlimm, wie Sterbliche zu fürchten neigen. Es ist ganz ähnlich wie das Einschlafen, oder zumindest wurde mir so gesagt. Selbst wenn eine Wunde Schmerzen verursacht, dauert es nur sehr kurz.“
„Was …“ Ich schluckte. „Was passiert nach dem Teil mit dem Einschlafen? Kommt dann ein – ein helles Licht?“
Wenigstens besaß Henry den Anstand, nicht zu lachen.
„Nein, es gibt kein weißes Licht. Aber es gibt ein Tor“, fügte er hinzu und warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu. Was immer er mir damit jedoch mitteilen wollte, ging völlig an mir vorbei, und er gab auf und sagte es.
„Die Tore am Eingang zu Eden Manor.“
Ich blinzelte. „Oh.“ Und dann dachte ich darüber nach. „ Oh . Du meinst, hier …“
„Manchmal, wenn sie hilfreich sein können“, beantwortete er meine unvollständige Frage. „Aber in der gewaltigen Mehrzahl der Fälle werden sie ins Jenseits geschickt.“
„Was ist das Jenseits?“
„Die Unterwelt, in der Seelen die Ewigkeit verbringen.“
„Also gibt es einen Himmel?“
Langsam schlang er mir die Finger um den nackten Oberarm, und automatisch lehnte ich mich an ihn. Vielleicht hatte meine Mutter recht gehabt – vielleicht war er so distanziert gewesen, weil er Angst gehabt hatte, ich würde Weihnachten nicht über-leben. Oder vielleicht versuchte er bloß, mich zu beruhigen. So oder so, seine Berührung war warm, und ich sehnte mich danach.
„Zu Beginn gab es viele verschiedene Glaubensrichtungen, deshalb war das Reich unbestimmt“, erklärte er, jetzt in lehrendem Ton. „Dann kamen größere Religionen, und mit ihnen formten sich unter anderem der Tartaros und die Elysischen Felder. Von daan, mit dem Wachsen der Religionen …“ Er hielt inne, als wählte er seine nächsten Worte sehr sorgfältig. „Das Leben nach dem Tod ist, wie auch immer eine Seele es sich wünscht oder vorstellt.“
Die endlosen Möglichkeiten überfluteten meine Vorstellung und machten mich schwindlig.
„Wird das nicht irgendwann kompliziert?“
„In der Tat.“ Diesmal erwiderte er mein Lächeln. „Und das ist der Grund, aus dem ich nicht allein herrschen kann. James hat mir zeitweilig geholfen.“
Sofort verdüsterte sich meine Laune.
„Wenn du nicht allein herrschen kannst, wie soll er das schaffen, wenn du vergehst?“
Henry bewegte sich, und einen Moment lang hatte ich Angst, er würde von mir abrücken. Ich legte meine Hand auf seine, und er hielt inne.
„Ich weiß es nicht. Wenn es so weit ist, wird das nicht länger meine
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