Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen
auch, aber – wir könnten Freunde werden. Und du müsstest nicht mehr einsam sein.“
Henry sah fort, verbarg sein Gesicht vollständig vor meinen Blicken. Doch als er antwortete, klang seine Stimme erstickt, als müsste er darum kämpfen, sich nichts anmerken zu lassen.
„Das fände ich sehr schön“, erwiderte er, und erleichtert stieß ich den Atem aus, den ich unwillkürlich angehalten hatte. Ich wand mich aus seiner Umarmung. Er sah mich nicht an, aber er legte die Hand zurück in seinen Schoß.
„Kann ich dir jetzt mein Geschenk überreichen?“, fragte ich. „Ist nicht vergiftet, versprochen.“
Er belohnte meinen geschmacklosen Scherz mit einem angedeutetenironischen Lächeln. Ich befreite mich aus den Decken und ging zu meinem Bett, um ein großes, golden eingewickeltes Päckchen darunter hervorzuholen und es zu ihm hinüberzu-tragen. Zu meiner Überraschung lag dort, wo ich gerade noch gesessen hatte, noch ein Päckchen.
„Dein Geschenk“, sagte er schlicht. „Auch nicht vergiftet.“
„Danke.“ Ich ließ mich wieder neben ihm nieder und reichte ihm sein Paket, doch er legte es beiseite und sah mir zu, wie ich meins auspackte. Ich wickelte das silberne Geschenkpapier ab, und darunter kam eine unscheinbare Schachtel zum Vorschein. Im schwachen Licht kniff ich die Augen zusammen, während ich den Deckel abhob. Als ich das Seidenpapier im Inneren zur Seite schob, kam ein gerahmtes Schwarz-Weiß-Foto zum Vorschein.
Ich erstarrte. Es war mein Lieblingsbild von meiner Mutter und mir. Darauf war ich erst sieben Jahre alt. An meinem Geburtstag hatten wir uns mitten in den Central Park gesetzt, an genau die Stelle, wo wir uns nun jede Nacht in meinen Träumen trafen. Wir hatten ein opulentes Picknick aufgebaut, nur um zusehen zu müssen, wie sich ein riesiger Hund darauf gestürzt hatte, der seinem Herrchen entkommen war. Das Einzige, was überlebt hatte, waren die Cupcakes gewesen, die ich mit ihr gemeinsam gebacken hatte.
Auf dem Foto saßen wir mitten in dem Chaos, das unser Mittagessen gewesen war, jede einen der kleinen Kuchen in der Hand. Schokolade mit lila Zuckerguss, fiel mir wieder ein. Meine Mom hatte die Arme um mich gelegt, und wir lächelten zwar beide, blickten jedoch nicht in die Kamera. Der Besitzer des Hundes hatte ein paar Fotos von uns geschossen, um das ruinierte Picknick wiedergutzumachen, und dies war dasjenige, das die letzten elf Jahre lang auf meinem Nachttisch gestanden hatte.
Doch als ich versunken daraufblickte, erkannte ich plötzlich, dass es nicht dasselbe war. Es hatte eine Tiefe wie das Bild in Persephones Zimmer. Eine Spiegelung hatte Henry es genannt. Doch anders als die von ihm und Persephone war diese keine Hoffnung, kein Traum. Sie war real.
Mit dem Handrücken wischte ich mir die Augen.
„Henry, ich weiß nicht …“
Er hob eine Hand, und ich verstummte. „Nicht bevor ich deins aufgemacht habe.“
Mit verschwommenem Blick wartete ich, während er das große Paket auswickelte. Ich hatte vier Anläufe gebraucht, um die Verpackung richtig hinzubekommen. Er hob den Deckel ab und stutzte.
„Was ist das?“, fragte er, als er das Tuch herausnahm, das ich so sorgfältig bestickt hatte. Ich hatte mir von niemandem helfen lassen, auch wenn ich wusste, dass es so nur Tage statt Wochen gedauert hätte.
„Es ist der Nachthimmel“, erklärte ich und hielt mein Bild an die Brust gedrückt. „Siehst du die Punkte? Das sind Sterne. Ich hab an das gedacht, was du über ihr Wandern erzählt hast. Du hast gesagt, dass sie anders standen, als du Persephone begegnet bist, und … so stehen sie jetzt. Als du mir begegnet bist.“
Nachdenklich betrachtete Henry die Sternbilder, die ich peinlich genau auf dem Tuch angeordnet hatte, und sanft strich er mit den Fingern über jenes, das ich als Jungfrau erkannte. Virgo. Kore.
„Danke.“ Er sah mich an mit seinen Augen aus Mondlicht, und etwas hatte sich verändert. Die Barriere, die während all der Zeit zwischen uns gestanden hatte, war fort, und einen Moment lang sah er fast wie eine andere Person aus. „Für alles. Ich habe noch nie ein so wundervolles Geschenk bekommen.“
Ich hob eine Augenbraue. „Ich bin mir nicht so sicher, ob ich dir das glaube.“
„Das solltest du.“ Er strich weiter über den Stoff. „Es ist sehr lange her, dass ich ein so außergewöhnliches Geschenk erhalten habe wie dich.“
Unfähig, den Blick abzuwenden, starrte ich ihn an und sog jedes Detail seines Gesichts in mich auf.
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