Das göttliche Mädchen - Carter, A: Das göttliche Mädchen
tröstend über den Rücken, wie ich konnte, und wünschte, ich wäre besser in solchen Dingen. Niemand, den ich in New York gekannt hatte, war je vor meinen Augen derartig zusammengebrochen. Doch es schien zu helfen, also hielt ich still und ließ sie sich ausweinen.
Schließlich lockerte sie den Griff und hob den Kopf weit genug, um mich ansehen zu können. Als ich ihren Schmollmund sah, wusste ich, das Schlimmste war überstanden.
„Wie können wir Freunde sein, wenn ich dir nicht mal Schwimmen beibringen darf?“, fragte sie und wischte sich vorsichtig die Augen trocken.
„Das funktioniert bei mir nicht, Ava“, warnte ich sie. „Ist mir egal, wie oft du das bei deinen Typen geübt hast.“
Erneut ließ sie die Schultern sinken, und ich seufzte.
„Ich will nicht schwimmen lernen – nicht weil ich dich nicht mag oder weil ich keine Zeit mit dir verbringen will, sondern weil ich Angst vor dem Wasser hab. Für mich ist es nicht einfach, mal eben reinzuhüpfen und mit dem Üben anzufangen, okay?“
Ihre Augen wurden groß. „Du hast Angst vor dem Wasser? So wahr wir hier sitzen? Angst?“
Offensichtlich war sie entschlossen, das hier für mich so peinlich wie möglich zu machen.
„Panische“, gestand ich. „Als ich vier oder fünf war, dachte ich, es wäre bestimmt lustig, im See im Central Park zu schwimmen. Ich bin reingesprungen und gesunken wie ein Stein. Meine Mutter musste hinterherspringen und mich retten. Seitdem hab ich es nicht über mich gebracht, es auch nur zu versuchen.“
So beiläufig über meine Mutter zu sprechen ließ meine Kehle eng werden, doch zum Glück schien Ava nichts zu bemerken. Stattdessen betrachtete sie mich eingehend, und ich wusste, ich hatte ein Problem.
„Ich sag dir was“, fing sie an und richtete sich auf. „Wenn’s draußen wieder wärmer wird, bring ich dir das Schwimmen bei, und du kannst … Keine Ahnung. Ich schulde dir einen riesigen Gefallen, wie wär’s damit?“
„Es gibt nichts auf der Welt, das du mir anbieten könntest, wofür ich bereit wäre, ins Wasser zu gehen.“ Ich stand wieder auf und hob die Christbaumkugeln auf. Es waren nur noch wenige übrig, und unter den letzten lag eine kleine herzförmige Schachtel, die in rosa Seidenpapier eingewickelt war. Auf einem Schildchen daran stand in blumiger Schrift mein Name. Mit gerunzelter Stirn nahm ich die Schachtel in die Hand.
„Ist das von dir?“
Ava betrachtete sie neugierig. „Nein. Wo hast du’s gefunden?“
„Hier unter dem Christbaumschmuck.“ Ich band die Schleife los, doch Ava riss mir das Päckchen aus der Hand. „Hey …“
„Fass das nicht an“, fiel sie mir ins Wort und stellte die Schachtel aufs Bett, als wäre eine Bombe darin versteckt, die gleich explodieren würde. „Du weißt nicht, wo das herkommt.“
Verärgert wandte ich mich wieder den Glasfigürchen zu.
„Es ist ein Weihnachtsgeschenk, Ava. Schon mal davon gehört?“ In meinem Kopf hallte James’ Warnung wider, aber ich hatte bloß versucht, es auszupacken. Ich war nicht so blöd, irgendwaszu essen oder anzuziehen, von dem ich nicht wusste, woher es kam. Davon abgesehen lag vielleicht eine Karte vom Absender in der Schachtel. „Deins ist unter dem Bett, falls du’s haben willst.“
Sie bückte sich und zog ein blau verpacktes Schmuckschäch-telchen hervor, auf dem ihr Name stand. Ich sah zu, wie sie es öffnete und die goldenen Creolen darin fand. Doch obwohl sie sich bemühte, Begeisterung zu zeigen, sah ich, wie sie ihren Blick immer wieder zu meinem unerwarteten Geschenk wandern ließ.
„Danke“, sagte sie und legte die Ohrringe an. „Die sind wunderschön.“
„Gern geschehen.“ Ich ging zum Bett. „Im Ernst, Ava, es ist bloß ein Geschenk. Ich bin sicher, es wird schon nicht versuchen, mich zu beißen oder …“
„Stopp.“
Schneidend klang Henrys Stimme durch den Raum, und ich erstarrte. Wütend stand er im Türrahmen, ein halbes Dutzend Wachen hinter ihm, alle mit der Hand an der Waffe. Er strahlte so viel Macht und Einfluss aus, dass die Temperatur merklich zu sinken schien. Zum ersten Mal begriff ich, warum alle einen respektvollen Abstand zu ihm wahrten, vor allem, wenn er zornig war.
Ich schluckte mein Unbehagen hinunter. „Es ist ein Geschenk …“
„Kate“, unterbrach Henry mich kalt. „Tritt zurück.“
Ich tat, was er verlangte, aber es gefiel mir nicht. Mit vor der Brust verschränkten Armen sah ich zu, wie er das Geschenk aufhob. Aus dem Nichts formte sich eine
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