Das Gold der Lagune: Historischer Roman (German Edition)
Visionen erzählen, schon gar nicht von einer, die augenscheinlich nicht mit den neuen Freunden, sondern mit seiner Schwester zusammenhing. Piet spürte zwei Dutzend Augenpaare auf sich ruhen. Fieberhaft suchte er nach den richtigen Worten, dann seufzte er.
»Hört, Freunde, ich gebe zu, dass es noch mehr Gründe gibt, warum ich nach Westen ziehen möchte.«
»Wieso?«, hörte er Mariankas verdutzte Stimme neben sich.
Er gab ihr ein Zeichen, sich zu beruhigen, und sprach weiter. »Aber einer davon ist, dass ich in meiner Heimat niemals anderen Kalderash begegnet bin. Höchstens von einzelnen Angehörigen eures Volkes war manchmal die Rede, die als Gaukler unterwegs waren, und selbst die blieben immer unter sich.«
Joschka und Tamina beugten sich vor, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
Der Anführer erhob die Stimme. »Du meinst also, dort schlägt uns keine Abneigung entgegen?«
»Das kann ich nicht mit Gewissheit sagen. Zumindest habe ich nie etwas darüber gehört.« Er rang um Gelassenheit. In den Zügen der Kalderash suchte er nach Argwohn oder Spott, doch er fand nur freundliche Aufmerksamkeit. Also sah er einen nach dem anderen an. »Es ist wichtig. Ihr müsst von hier fort, und zwar so schnell wie möglich!«
»Hast du eine Ahnung, wie beschwerlich und voller Gefahren eine Reise im Winter sein kann, Piet?«, fragte ihn Velky mit Nachdruck.
Einige andere stimmten lautstark zu.
»Natürlich weiß ich das, ich war selbst mehrmals im Winter unterwegs. Ich fürchte aber, wenn ihr bis zum Frühling wartet, könntet ihr es bereuen. Denkt doch nur an die Begegnung mit den Deutschrittern! Wie lange noch, bis …«
»Schweig!«
Taminas Gesicht schimmerte im Schein des Feuers wie Pergament, während ihre dunklen Augen angstvoll geweitet waren. Die Kalderash sahen auf.
»Piet sagt die Wahrheit.« Sie wischte sich über die Wangen. »Ich für meinen Teil nehme lieber eine beschwerliche Fahrt auf mich, als weiter dem Hass der Menschen hier ausgesetzt zu sein!«
»Dein Vorschlag will gut überlegt sein«, ließ sich Joschka vernehmen. »Wir werden darüber nachdenken.«
Piet setzte sich, und Marianka tastete nach seiner Hand.
Eine Weile starrte die Gruppe in die züngelnden Flammen, nur ab und zu warf einer der Männer einen Ast oder ein paar Zweige hinein, um das Feuer am Leben zu erhalten. Um die Lichtung herum war es inzwischen stockdunkel. Als der heisere Schrei eines Nachtvogels die Stille durchbrach, zuckte Marianka zusammen und drückte Piets Finger. Danach war wieder nur das Rauschen des Windes in den Bäumen zu hören. Schließlich ergriff Aura das Wort, die junge Frau, die ihnen bei ihrer ersten Begegnung mit den Cygani ob ihrer strahlend weißen Zähne aufgefallen war.
»Unser Freund Piet spricht die Wahrheit. Wir müssen reisen.«
Alle Augen richteten sich auf die schöne Kalderash , die – wie Piet und Marianka inzwischen wussten –, die Gabe der Weissagung besaß.
»Hast du etwas gesehen oder gehört? So sprich weiter«, forderte Joschka sie auf.
Auras Blick schien sich in der Schwärze des Waldes zu verlieren.
»Ja, ich habe ein Wort des Herrn empfangen«,begann sie. »Er sagt: ›Im Polenland wird es für alle Cygani bald sehr schwer werden. Genau wie die Juden, mein auserwähltes Volk von alters her, wird man auch euch verfolgen. Viele werden leiden. Deshalb geht fort, bevor es zu spät ist!‹«
Nachdem Aura geendet und sich ihr Blick wieder geklärt hatte, nickte Joschka.
»Für mich gibt es keinen Grund, an dieser Prophetie zu zweifeln«, erklärte er mit fester Stimme. »Wir brechen morgen auf.«
25
In den Bergen, zwischen Verona und Trient
B astian, Baldo und Cristin tratenin die Gaststube des kleinen Wirtshauses, um sich an einem roh gezimmerten Tisch nahe einem Kaminfeuer niederzulassen, währendPaolo sichum die Vierbeiner kümmerte. Dannfolgte der Mann mit den vorstehenden Zähnen seinen Auftraggebern in die Schänke und schritt an einigen anderen Männern vorbei, die demBier und Würzwein zusprachen. Die drei hatten bereits etwas zu essen und zwei Krüge Wein bei einem schnauzbärtigen Wirt bestellt. Der Bergführer setzte die vom Schnee durchnässte Pelzmütze ab und ließ sich neben Bastian auf einer Bank nieder. Als Cristins Blick auf die großen, abstehenden Ohren des Mannes fiel, musste sie erneut schmunzeln .
Der Wirt brachte den Wein, zwei Brotlaibe und ein großes Stück Käse.
»Wärmt Euch erst mal auf«, sagte er und schenkte Cristin einen Becher ein. Dankbar
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