Das Gold der Lagune: Historischer Roman (German Edition)
Kutsche. Cristin zog ihn an sich und genoss die kurze Fahrt. Wieder einmal stellte sie sich im Stillen die Frage, ob sie Janek mit sich nach Hamburg nehmen sollte. Als ahnte der Junge ihre Gedanken, schob er seine Hand in die ihre. Cristin biss sich auf die Unterlippe. Herz und Verstand kämpften in ihr miteinander wie Krähen um eine Beute. Doch dann verbot sie sich jeden weiteren Gedanken daran. Es wäre herzlos, Janek dem Schmied und seiner Frau wieder zu entziehen, nachdem der Junge nun solange bei ihnen lebte. Wie kannst du überhaupt über so etwas nachdenken?, schalt sie sich selbst. Du solltest dankbar sein, ihn in so guten Händen zu wissen.
Die Kutsche hielt mit einem Ruck und riss sie aus ihren Grübeleien.
»Ich hierbleiben und warten«, sagte Jaromir und lüftete seinen Filzhut.
Der Tisch in Konstantys Stube war mit einem Strauß aus Margeriten und leuchtend gelben Ringelblumen und einer Wachskerze geschmückt, deren Schimmer sich in den Augen der Anwesenden spiegelte. Marianka, Piet, seine Schwiegereltern, Janek und Cristin erhoben ihre Becher.
»Auf deine glückliche Rückkehr, Schwesterchen! Auf diesen Abend! Und auf Elisabeth, die heute Nacht in einem königlichen Bett schlafen darf!«, prostete Piet ihr mit belegter Stimme zu.
Die Becher klirrten gegeneinander, und eine wohlige Wärme breitete sich in ihm aus. Cristin an seiner Seite zu wissen war stets, als wäre ein fehlender Teil seiner selbst endlich nach Hause gekommen. In Kindertagen hatte er sich oft gefragt, wer dieses geheimnisvolle Mädchen war, von dem er so oft träumte und dessen Gedanken er auffing. Auf dem ersten Blick war die Ähnlichkeit zwischen ihnen nicht auszumachen. Doch der fragende Ausdruck in ihren veilchenblauen Augen, die sanften Linien ihres Gesichts sowie ihre Mimik hatten ihn zuweilen an seine Mutter erinnert.
Bis er eines Tages erfahren hatte, dass Cristin seine Zwillingsschwester war, die als Neugeborene von ihm getrennt worden war. In seinen Visionen hatte er ihren Weg verfolgt. Manchmal kam es ihm vor, als würde sich ein Schleier lüften. Er war ihr dann so nahe, dass er nicht nur ihr Gewand, sondern auch ihre Seele zu berühren und darin einzutauchen vermochte.
Meist hatten sich die Bilder völlig unvermittelt vor seinem inneren Auge gebildet und nur wenige Herzschläge lang angedauert, um dann genauso schnell zu verblassen, wie sie gekommen waren. Doch mit der Zeit hatte Piet gelernt, sich Cristins Erscheinung und die Orte, an denen sie sich befand, einzuprägen. Schließlich hatten ihn all die kleinen Zeichen zu seiner Schwester geführt. Sie wiedergefunden zu haben, war das große Mysterium seines Lebens.
Voller Zärtlichkeit betrachtete er ihre geröteten Wangen und die Art, wie sie ihm zuzwinkerte. Wie sehr sie sich verändert hatte! Aus der verhärmt wirkenden und blassen jungen Frau, gezeichnet von den Qualen der Flucht und des Verlustes, war eine strahlende Person geworden, die ihr Leben trotz aller Widrigkeiten zu meistern verstand. Das Herz wurde ihm weit. Wenn es einen Schöpfer gibt, der über uns wacht, dann möge er meine Schwester auf all ihren Wegen beschützen, dachte Piet, beugte sich über den Tisch und gab ihr einen herzhaften Kuss auf die Wange. Bei der Berührung fuhr er zusammen. Die Erinnerung kam jäh über ihn. Eine Burg stand ihm plötzlich vor Augen, es war der Wawel. Diese kummervolle Stimme war zwar leise gewesen, aber deutlich zu hören. Dann wieder Dunkelheit.
»Was siehst du mich so eigenartig an, Piet?« Cristins Blick ruhte fragend auf ihm. »Stimmt etwas nicht?«
»Ähm … nein. Ja, ich meine …« Er wandte sich ab, dem Fenster zu, und schaute hinaus.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter. »Piet?«
Er schluckte und drehte sich herum. »Cristin.« Nun umfasste er ihr Gesicht. »Kann es sein, ich meine … verschweigst du mir etwas, die Reise betreffend? Mir war so, als wärst du in Gefahr gewesen, verstehst du?«
»Gefahr? Nein!«, erwiderte Cristin hastig. »Wie du siehst, stehe ich wohlbehalten vor dir, oder?«
Piet kratzte sich am Hinterkopf. »Gewiss, aber …«
»Könnt ihr beiden mir mal sagen, was das alles zu bedeuten hat?«
Marianka, die inzwischen von Cristins und Baldos Geschichte wusste und gegenüber Fremden Stillschweigen gelobt hatte, strich Janek, der ebenfalls einen verwirrten Eindruck machte, über die Schultern und schob sich zwischen die beiden. Die Hände in die Hüften gestemmt, sah sie von einem zum anderen und musterte ihren Mann in
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