Das Gold der Lagune: Historischer Roman (German Edition)
Hände sie auf den Rappen. Mit einem spitzen Schrei krallte sie die Fingernägel in das Gewand des Ritters. Der verlor keine Zeit und gab dem Pferd die Sporen. Cristin schloss die Augen und versuchte ihre aufkommende Furcht im Zaum zu halten.
»So sprecht doch endlich! Was ist mit der Königin?«, schrie sie gegen den Wind an.
Doch sie erhielt keine Antwort, stattdessen fiel das Pferd in gestreckten Galopp. Übelkeit überrollte sie, einer Welle gleich. Der Wind zerrte an ihrem Kopftuch und löste es. Bevor sie die Hand heben konnte, um es festzuhalten, flog es davon. Cristins Gedanken überschlugen sich. Etwas Furchtbares musste geschehen sein! Sie spürte ihre Halsschlagader pochen. Dann wurde das Tier langsamer und fiel in Trab, sie ritten auf gepflasterten Wegen in die Stadt hinein. Zaghaft hob sie die Lider und ließ den Blick durch die engen Straßen schweifen, durch die der Ritter das Pferd einem unbekannten Ziel zutrieb.
»Macht Platz!«, hörte sie den Reiter mit strenger Stimme rufen.
Menschen stoben auseinander, während ihr Begleiter sich geschickt einen Weg bahnte und schließlich vor einem zweistöckigen Gebäude das Pferd zügelte. Ihre Ankunft musste erwartet worden sein, denn sogleich wurde die Tür des Hauses aufgestoßen.
»Seid Ihr die Herrin Agnes?«
Eine ältliche Frau in einem bodenlangen Kleid, das graue, zu einem dünnen Zopf geflochtene Haar von einer Haube bedeckt, starrte zu ihr empor.
»Die bin ich.«
»Die Königin hat nach Euch rufen lassen! Kommt schnell, das Kind!«
Bei allen Heiligen! Mit weichen Knien saß Cristin ab und folgte der Alten, die noch erstaunlich gut zu Fuß war, in den staubigen Innenhof des Spitals. Auf dem Bock der königlichen Kalesche saß einer der Kutscher und musterte sie mit sorgenumwölkter Miene. Ihre Handflächen wurden kalt. Als die Frau eine Tür aufstieß und Cristin hinter ihr eine steinerne Treppe emporlief, hörte sie es. Der klägliche Laut ging ihr durch Mark und Bein. Ein Kind schrie. Schrie, wie nur Neugeborene es taten. Viel zu früh, schoss es Cristin durch den Kopf, während sie über einen kurzen Gang hinter der Schwester herlief. Diese riss eine Tür auf und schlug sogleich ein Kreuz über der knochigen Brust. Das Schreien des Kindes war in einWimmern übergegangen.
»Heilige Jungfrau Maria«, hörte sie die Alte flüstern.
Leise zog sie die Tür ins Schloss. Cristin trat vor. Jadwiga lag auf einem schmalen Krankenbett, umringt von drei weiteren Schwestern und einem Mann in grauem Rock. Es war einer der beiden Leibärzte, der die Königin neuerdings auf Anweisung König Jagiellos auf Schritt und Tritt begleitete. Die Luft war erfüllt von Schweiß, Angst und dem scharfen Aroma verschiedener Substanzen, die sie nicht gleich einzuordnen wusste. Obwohl die Königin zugedeckt war, konnte Cristin auch den Geruch frischen Blutes wahrnehmen, der ihrem Leib entströmte.
Zögernd trat sie näher und begegnete dem ernsten Blick des Medicus. Dann sah sie das Neugeborene. Eine der Schwestern hielt es in den Armen. Cristin erschrak. Wie klein es war, wie furchtbar klein. Hochrot war das von dunklem Flaum bedeckte Köpfchen. Sieschluckte, trat an das Bett und ergriff die Hand der polnischen Königin. Bleich war das lieb gewordene Antlitz.
»Es ist ein Mädchen«, flüsterte Jadwiga. Auf ihrer Stirn glänzten Schweißperlen, und ihre Miene zeugte von der Anstrengung. »Wie sehr ich mir ein Mädchen gewünscht habe. Wird sie es schaffen?« Ihre Augen wurden groß, der Blick ängstlich. »Liebe Freundin, bitte bete mit mir.«
Cristin nickte und schloss die Augen, während Jadwiga leise um Gottes Beistand bat. Als sie geendet hatte, sah Cristin zu der Schwester hinüber, die das Kind hielt. Um es zu wärmen, hatte sie es in eine Wolldecke geschlungen. So winzig, dachte Cristin wieder. Die Haut des Säuglings war durchscheinend wie Pergament und ließ die feinen Adern auf den zappelnden Ärmchen erkennen. Aber es atmet und schreit.
Sie versuchte, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. »Alles wird sich zum Besten wenden, Hoheit.«
Cristin wandte den Kopf, der Arzt machte eine stumme Handbewegung zum Ausgang hinüber.
»Ich bin gleich wieder bei Euch, meine Königin«, sagte sie mit einem leichten Lächeln zu Jadwiga, folgte dem Medicus in den Gang hinaus und blieb vor ihm stehen.
»Bitte sagt mir, was passiert ist. Die Regentin war … war wohlbehalten, als sie vor wenigen Stunden den Wawel verließ.«
»Nun, Herrin«, begann der Arzt mit
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