Das Gold der Lagune: Historischer Roman (German Edition)
Tagen mehr als ein Jahr ins Land gegangen war.
Erneut sah sie den Gerichtsbüttel vor sich.
»Ihr sollt vor Gericht erscheinen«, hatte er geknurrt, ohne den kräftigen Griff, mit dem er ihren Oberarm umfasste, zu lockern, während er sie durch die regennassen Gassen mit sich zog.
Den ganzen Morgen hatte es wie aus Eimern geschüttet, sie erinnerte sich noch genau daran, wie an jedes weitere Detail, was an diesem Tag geschehen war. Sie gingen über den Marktplatz, vorbei an etlichen Männern und Frauen, die wohl keinen Einlass mehr gefunden hatten und sie unverhohlen neugierig anstarrten, während ein weiterer Büttel die Rathaustür öffnete und ihr einen Wink gab einzutreten. Der Mann, der sie abgeholt hatte, lockerte endlich seinen Griff und stieß eine hohe Flügeltür auf. Die Blicke der gaffenden Menge waren schneidend wie die Klinge eines Dolches, und sie nahm das Getuschel der Anwesenden überdeutlich wahr.
Auf einer Bank saßen einige Männer, denen man ihren Wohlstand ansah. Ihre teuren Mäntel waren feucht vom Regen, ebenso die Filzhüte, die sie in den Händen hielten. An ihren Hälsen hingen dicke Ketten aus schimmerndem Silber. Auf der anderen Seite erkannte sie Cristin Bremer. Kurz trafen sich ihre Blicke, und Mirke wandte den Kopf ab. Dann sah sie ihn. Lynhard Bremer. Sie schlug die Augen nieder. Mit weichen Knien stolperte sie die letzten Schritte den schmalen Gang hinunter und blieb vor einem breiten Tisch aus Eichenholz stehen. Den fülligen, einarmigen Mann in Richterrobe, der in einem Sessel dahinter thronte und ihr zunickte, kannte sie – Büttenwart, einer der beiden Lübecker Vögte. Neben ihm saß ein jüngerer Mann mit dünnem, seitlich über den schmalen Schädel gekämmtem Haar.
Büttenwart drehte sich zu ihm herum. »Befragt sie, Fiskal .«
»Mirke Pöhlmann«, sein Blick war undurchdringlich. »Hast du mit Lynhard Bremer gebuhlt? Wenn du schweigst, muss ich das als ein Ja deuten«, fügte er hinzu und wies auf den Angeklagten.
Panik wallte in Mirke auf, denn sie fühlte die erwartungsvollen Blicke der Zuschauer und Schöffen auf sich ruhen.
»Ich frage dich nochmals: Hat dieser Mann dort Ehebruch mit dir getrieben? Antworte!«
Sie nickte zaghaft.
»Nun, dafür wirst du mit Ruten am Pranger gezüchtigt werden!«
Laut aufschluchzend senkte sie den Kopf. Ihre Wangen glühten. Sie trat von einem Fuß auf den anderen, suchte nach den richtigen Worten. Verzweifelt griff sie zu einer Notlüge. »Er hat mir nachgestellt und mich verführt. Ich bitte Euch um Gnade!«
»Darüber wird an einem anderen Tag entschieden werden«, unterbrach Büttenwart sie. »Glaub mir, Mädchen, du wirst noch dankbar sein, dass du mit zwanzig oder dreißig Rutenschlägen davonkommst. Heute geht es um etwas viel Schlimmeres, nämlich den Mord an Lukas Bremer, bei dem du als Lohnarbeiterin angestellt warst. Hast du uns etwas dazu zu sagen?«
Sie schwieg, bis der Richteherr ihr aufmunternd zunickte und sie sich ein Herz fasste und zögernd zu sprechen begann. Davon, wie Lynhard an dem Abend, an dem die Bremers ihr Fest gegeben hatten, noch einmal zurückgekommen war, in der Hand einen kleinen Krug.
»Gib meinem Bruder diesen Wein als Dank für den gelungenen Abend«, trug er ihr mit diesem charmanten Lächeln auf, das ihr Herz stets zum Hüpfen gebracht hatte. »Es ist ein besonders guter Tropfen.«
Im weiteren Verlauf des Verhörs schwor sie bei der Jungfrau Maria und allen Heiligen, nichts davon gewusst zu haben, dass der Wein, den sie Bremer gebracht hatte, Gift enthielt. Sie heulte wie ein Schlosshund, wurde von Lynhard Bremer beschimpft und verflucht, doch am Ende ließ der Richteherr sie gehen. Jedoch nicht ohne die Warnung, die Stadt ja nicht zu verlassen, da man sie noch wegen ihrer Buhlschaft mit Bremer bestrafen werde. Ein letzter hasserfüllter Blick von Lynhard traf sie, als sie an ihm vorbei durch den Saal stolperte, die Augen tränennass, die Kehle wie zugeschnürt.
Die folgenden drei Tage harrte sie voller Angst in ihrer Kammer aus, bis man sie erneut abholte und nach einer kurzen Verhandlung auf dem Marktplatz, bei der Cristin Bremer ihren Ehebruch bezeugte, zum Schandpfahl brachte.
Seit jenem Tag loderte ein Feuer in ihr, das nie erloschen war, dessen Flammen vielmehr von Tag zu Taghöher schlugen.Als sie von ihrer Schwangerschaft erfuhr, war sie überglücklich, Lynhard ein Kind zu schenken. Wie naiv zu glauben, er werde sich freuen! Im Gegenteil, es hatte ihn nicht gekümmert.
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