Das Gold von Sparta
ihrer Schlussfolgerungen nicht gegenseitig beeinflussen wollten, warteten sie ab, bis sie beide die Lektüre beendet hatten, um dann erst ihre Notizen miteinander zu vergleichen.
»Was denkst du?«, fragte Sam. »Ist er ein Spinner oder ein Genie?«
»Das hängt davon ab, ob er recht hat oder auf dem Holzweg ist. Zweifellos ist er von Xerxes und Delphi geradezu besessen. Seine Version von der Invasion hat ihm in der akademischen Welt kaum Freunde geschaffen.«
Nach Jahren intensiver Forschung war Bucklin zu einer sehr eigenwilligen Schlussfolgerung gelangt, nämlich dass Xerxes’ Überfall auf Delphi erfolgreicher gewesen war, als griechische Historiker einzuräumen bereit waren. Laut Bucklin hatten die Bewahrer des siphnischen Schatzhauses in den Wochen vor dem Überfall einen Plan entwickelt, um ihren Reichtum zu schützen. Da sie wussten, dass kein Ort vor der Plünderung durch die Perser sicher war, schmolzen die Siphnier ihre Goldvorräte ein und gossen zwei Karyatiden daraus. Als die Säulen abgekühlt waren, hat man sie in Gips eingehüllt und gegen die echten Säulen, die den Eingang zum Schatzhaus flankierten, ausgetauscht.
Aus irgendwelchen unbekannten Gründen ist der persische Stoßtrupp aber nicht auf die Täuschung hereingefallen. Auf Xerxes’ Befehl floh eine Abteilung von zweihundert eigens ausgebildeten Soldaten, den so genannten Unsterblichen, mit den Karyatiden – und zwar in der Absicht, Griechenland in nördlicher Richtung zu verlassen und dann nach Osten durch Makedonien und Thrakien weiterzuziehen und in die Hauptstadt des Achämenidenreichs, Persepolis, zurückzukehren. Dort wollte Xerxes die Karyatiden einschmelzen, einen massiven goldenen Thron daraus gießen und seinem Sieg über die Griechen somit ein Denkmal schaffen, das für alle Ewigkeiten in der Halle der Hundert Säulen stehen sollte.
Von den Unsterblichen unbemerkt, gelangte die Nachricht von ihrer Schändung Delphis in weniger als einem Tag nach Sparta. Eine phratra spartanischer Soldaten, insgesamt etwa siebenundzwanzig, begann die Verfolgung, um nicht nur die Karyatiden zurückzuholen, sondern auch um ihre Brüder zu rächen, die sie in der Schlacht bei den Thermopylen verloren hatten.
Sie holten die Unsterblichen auf dem Gebiet des heutigen Albanien ein und schnitten ihnen dann den Fluchtweg nach Osten ab. Drei Wochen lang jagten die Spartaner die Unsterblichen und trieben sie nach Norden durch Montenegro, dann durch Bosnien und Kroatien … und stellten sie schließlich in den Bergen im Nordwesten Sloweniens. Obwohl im Verhältnis von zehn zu eins in der Überzahl, waren die Unsterblichen für die Spartaner keine ernstzunehmenden Gegner. Der persische Stoßtrupp wurde völlig vernichtet. Von den ursprünglich zweihundert Männern, die Griechenland einen Monat zuvor verlassen hatten, blieben nur dreißig am Leben, da sie verschont worden waren, um als Träger der Karyatiden zu dienen.
Der spartanische Anführer entschied, nicht in die Heimat zurückzukehren, jedenfalls so lange nicht, wie Xerxes’ Heer ihr Land heimsuchte. Die Säulen waren zu einem Symbol des Überlebens Griechenlands geworden, so dass die Spartaner schworen, eher zu sterben, als sie in Xerxes’ Hände fallen zu lassen. Da sie nicht wussten, wie weit die Perser vordringen würden, zogen die Spartaner nach Norden aus Slowenien hinaus, nämlich mit der Absicht, einen Ort zu suchen, wo sie die Säulen so lange verstecken konnten, bis es sicher war, sie nach Hause zurückzubringen. Die phratra wurde jedoch bis auf einen einzigen Soldaten, der ein Jahr später taumelnd vor den Toren Spartas erschien, nie mehr gesehen. Ehe die vollkommene Erschöpfung und die Strapazen seiner langen Wanderung ihren Tribut forderten, konnte er noch berichten, dass seine übrigen Kameraden gestorben und die Karyatiden zusammen mit ihnen irgendwo verschlossen seien. Er nahm das Wissen um den genauen Ort jedoch mit ins Grab.
»Dann ist das also das letzte Teil des Puzzles«, sagte Remi. »Oder eins der letzten, muss man vielleicht eher sagen. Wie Bondaruk und Bucklin einander gefunden haben, werden wir wahrscheinlich nie erfahren, aber es ist klar, dass Bondaruk die Geschichte glaubt. Er ist überzeugt, dass Napoleons Verschollenes Dutzend eine Art Schatzkarte ist, die ihn zu den Säulen der Siphnier führen wird. Sie sind das Familienerbe, das er zurückholen will. Erinnere dich, was Cholkow in Marseille über Bondaruks Motive gesagt hat: Er will nur etwas beenden, das vor
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