Das goldene Meer
Welt, da war schon Erhardts Wirtschaftswunder in vollem Schwung. Aber uns ging es damals auch nicht gut. Das mit dem Flügel muß 1966 gewesen sein, als Vater seinen ersten Herzinfarkt bekam und nicht mehr arbeiten durfte. Da sollte der Flügel zum zweitenmal weg. Wie's auch war, mein Mütterchen, Du gehörst der Generation an, die Krieg, Zerbombung und Hunger überlebt hat. Unsere Generation kann das nie nachempfinden, und die ›Gnade der späten Geburt‹ weist sich da durch aus, daß sie einen anderen Begriff von Humanität und Elend hat. Unser Einsatz hier im Südchinesischen Meer ist ein Beweis dafür . Wir werden angesehen wie dumme Störenfriede. Indem wir Menschen retten, stören wir den Frieden, so weit sind wir in Deutschland gekom men! Man könnte weinen, wenn Tränen dafür nicht zu wertvoll wären.
Liebstes Muttchen, der Wind bläst immer stärker. Das Schiff schwankt schon deutlich, rollt und stampft. Die Wellen schlagen schon gegen mein Bullauge, das heißt, daß sie über sechs Meter hoch sind. Ich muß gleich auf die Brücke zum Ausguck, zusammen mit Stellinger. Wenn wir jetzt ein Flüchtlingsboot sichten, wird es eine dramatische Rettung werden.
Laß Dich küssen, mein allerliebstes Muttchen.
Dein Sohn.
Vier Tage dauerte der Sturm. Vier Tage, in denen die Liberty of Sea so durchgeschüttelt wurde wie nie seit ihrer ersten Fahrt. Das war in der Biscaya gewesen, bei einem November-Orkan, aber da lag sie schwer im Wasser, beladen mit Containern, und die einzige Sorge war, daß alles gut vertäut war und die Ladung nicht verrutschte.
Jetzt war das anders. Die Menschen an Bord wogen ein Geringes gegen die Container, der Rumpf stand hoch im Wasser, das Schiff war wie ein Holzstück auf den Wellen, ächzte und stöhnte und knackte in allen Nieten, zitterte und duckte sich bei den gewaltigen Brechern, die über Deck krachten, hob sich dann auf die Wellenkämme hoch, als würde es in den dunkel-grauen Himmel geschleudert und fiel in die Wellentäler hinab mit einem dumpfen Aufschrei, als breche es auseinander.
Unter Deck, in den Lagerräumen, hockten oder lagen die Flüchtlinge auf ihren Holzplatten und Kokosmatten, hielten sich gegenseitig fest, wenn das Schiff sich auf die Seite legte oder in die Wasserschluchten fiel. Überall roch es widerlich nach Erbrochenem, vor allem die Frauen und Kinder entleerten ihre Mägen, weinten, beteten oder schrien jedesmal auf, wenn die Stahlwände krachten. Die Männer, die meisten von ihnen Fischer, die auf dem Mekong oder in seiner Mündung schon manchen Sturm erlebt hatten, saßen stumm herum, blickten ab und zu sorgenvoll gegen die Schiffswand oder hatten sich langgestreckt und dösten vor sich hin.
Hung, selbst gelbweiß im Gesicht, mit leerem Magen und nur noch bitteren Saft spuckend, ging herum und machte den Frauen Mut. »Es ist ein gutes Schiff!« sagte er immer wieder. »Ein starkes Schiff! Der Kapitän sagt: Nichts wird passieren. Glaubt dem Kapitän, meine Lieben. Das Krachen hat nichts zu bedeuten. Die Wände sind stabiler Stahl. Keine Angst, sag' ich euch. Morgen ist das Wetter besser.«
Aber der Sturm dauerte vier Tage und vier Nächte. 96 Stunden, auf die Larsson in seinem Leben gern verzichtet hätte. Abwechselnd mit Büchler stand er auf der Brücke, am zweiten Tag die ganzen 24 Stunden, klammerte sich am Kommandostand fest und starrte auf ein Meer, das nicht mehr wie ein Meer aussah, sondern wir ein wanderndes Gebirge. Die riesigen Brecher, die über Bord schlugen und auf die Deckplanken hämmerten, waren gefährlicher als das Tanzen des Schiffes auf den Wellen.
Wenn eine dieser Wasserfäuste das Deck durchschlug und ein Sturzbach in einen der Lagerräume flutete, dann würde Panik ausbrechen, das wußte er. Und Panik wäre Tod, das wußte er auch. Die Vietnamesen würden aus der sicheren Tiefe an Deck rennen, vor allem die Frauen mit den Kindern, in sinnloser, blinder Angst, und hier würden sie die nächsten Brecher packen, sie an die Bordwand drücken und zerschmettern, oder sie hochheben und über Bord spülen. Da könnte keiner mehr helfen.
»Wie sieht's da unten aus?« fragte Larsson einmal im Maschinenraum an.
»Alles okay.« Kranzenbergers Stimme klang ruhig wie immer. »Wenn wir Stabilisatoren hätten, ging's mir besser.«
»Die würden jetzt nichts nützen.« Larsson entwickelte sogar so etwas wie Humor, der Kampf gegen die Gewalt der Natur machte ihn freier. Das war erstaunlich. »Wenn wir Flügelchen ausgefahren hätten, würden
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