Das goldene Meer
sind sechs deiner Kinder Christen?‹ – ›Das ist Tradition‹, sage ich. Und sie schreien mich an: ›Hat der Kommunismus keine Tradition?‹ – Ich sage ja, und ›Nga ist wieder schwanger, und ich weiß, auch dieses Kind wird getauft!‹ Da haben sie mich geschlagen, und geschrien: ›Da … da … und da … du wirst keine Kinder mehr machen …!‹ Aber es war wohl nicht gelungen. Nga bekam das neunte Kind … da wußte ich: Ich muß weg … weg … weit weg … Und Trinh Thu Cam kam mit … er ist mein Cousin … er versteht etwas von Motor und Booten.«
Truong schwieg, verdrehte die Augen und schnappte nach Luft. Das Reden hatte seine letzte Kraft verbraucht … die Erschöpfung ließ ihn ohnmächtig werden.
Am Abend wußte man mehr. Xuong berichtete von weiteren Gesprächen.
»Sie haben die Flucht vier Jahre lang vorbereitet. Truong ist ein armer Bauer, wohnte in einer Flechthütte mit Reisstrohdach in den Feldern, auf einer kleinen Insel. Zwei Jahre sparte er für den Kahn, zwei Jahre für den Motor. Auch eine Seekarte stellte er her. Er malte sie aus einem Schulatlas seines ältesten Sohnes ab. Vietnam, Thailand, Malaysia, China, die Philippinen, Hongkong, irgendwohin wollte er, über das Meer flüchten, das gar nicht so groß aussah in dem Atlas. Und dann schleppte Trinh Thu Cam, der Cousin, mit drei Freunden das Boot in vier Tagesmärschen bis zur Küste und ließ sagen: Kommt! Wir können fahren. Und sie fuhren.«
Xuong sah in seine Notizen. Die Erinnerung wurde wieder lebendig, an das eigene furchtbare Erleben.
»Vierzehn Handelsschiffe fuhren in elf Tagen an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten. Nur zwei Frachter drehten bei, stoppten, aber sie nahmen die zwei Männer, die Frau und die neun Kinder nicht auf, sondern gaben ihnen Frischwasser in Plastikkanistern. So sehr sie bettelten und ihre Rosenkränze hochhielten, die Kapitäne befahlen weiterzufahren. Als sie unser Schiff sahen, glaubten sie, auch wir würden an ihnen vorbeifahren. Sie hatten in der Nacht miteinander gebetet, wollten sterben und warteten nun auf die Erlösung. Für Truong ist es ein Wunder und ein Beweis von Gottes Gegenwart, daß sie nun doch noch weiterleben können.« Xuong senkte den Kopf. »Für uns war es auch ein Wunder.«
»Aber der Bundesinnenminister sagt, es lägen keine humanitären Gründe vor!« Dr. Starke legte Xuong die Hand auf die Schulter. »Und wenn sie mich später einen Staatsfeind nennen und mir den Bundesanwalt auf den Hals hetzen, ich werde das alles hier in die Welt hinausschreien und die trägen Ärsche der Ministerialbürokratie in Bewegung halten!«
»Wilhelm, Sie werden ja, ohne daß es sich um eine Frau handelt, leidenschaftlich!« Anneliese reichte ihm eine Zigarette hinüber, die sie sich gerade angezündet hatte. Sie sah, wie Starkes Hand zitterte. »Sie bekommen ein ganz anderes Image.«
»Ich habe gelernt, schöne Kollegin.« Dr. Starke sog gierig den Qualm ein und stieß ihn durch die Nase wieder aus. »Dieses Menschenfischen hat mich verändert. Ich komme als ein anderer Starke nach Deutschland zurück.«
»Bekommen Sie unsere neuen Freunde durch?« fragte Xuong zweifelnd. »Überleben sie?«
»Ich habe ein gutes Gefühl«, antwortete Dr. Herbergh ausweichend.
»Auch die Kinder?«
»Da sollte man bei jedem seinen Rosenkranz beten.«
»Ich werde an ihren Betten Wache halten, Herr Doktor.«
Herbergh nickte.
Aus dem Tagebuch von Hugo Büchler, 1. Offizier der Liberty of Sea.
Heute nur eine kurze Eintragung. Aber eine Eintragung, die ich schreibe mit dem Gefühl, aufgerissen zu sein und zu verbluten.
Julia ist zu mir gekommen und hat mir gestanden, daß sie Johann Pitz liebt und daß sie sogar heiraten wollen. Ich bin sonst ein ruhiger , besonnener Mensch … aber in dieser Minute hätte ich sie erwürgen kön nen! Alles was ich mir mit ihr gemeinsam in Deutschland vorgenommen habe, unsere schöne Zukunft, das Häuschen im Grünen, zwei oder drei Kinder, ein neuer Beruf als Chartermakler … alles ist mit einem Satz zer stört.
Warum habe ich eigentlich Dr. Starke niedergeschlagen und fast getötet? Auch er hat jetzt einen Tritt von Julia bekommen und ist im Leid mein Bruder. Warum hat sie das nicht früher gesagt? Alles war sinnlos, was ich gedacht, geplant und getan habe. Ich stehe nackt in meiner leeren Welt.
Trotz allem: Ich liebe Julia noch immer. Werde sie immer lieben. Mag sie mit Pitz glücklich werden. Ich war es auch, wenn auch nur eine kurze Zeit.
Und jetzt will ich
Weitere Kostenlose Bücher