Das goldene Meer
sie hatte geweint und ihn immer wieder geküßt. Sie fragte nicht, sie bettelte nicht, für sie war es selbstverständlich, daß sie mit den anderen an Land mußte, in das Lager, warten auf ihren Transport in ein fremdes Land und zu fremden Menschen, die eine neue Heimat werden sollten. Starke hatte sie und ihren Freund Thai auf die Liste für Frankreich setzen lassen. »Es ist ein schönes Land«, hatte er zu ihr gesagt, als sie an seiner Brust weinte. »Ich kenne es gut, ich könnte auch dort leben. Es sind Menschen, die dich verstehen werden. Die wissen, was ihr leiden mußtet. Du wirst es gut haben in Frankreich, mein Paradiesvögelchen.«
Und Phing hatte genickt und gesagt: »Ich werde dich nie vergessen, auch in Frankreich nicht.«
Als einer der letzten verabschiedete sich Vu Xuan Le. Er gab Dr. Herbergh die Hand und verneigte sich tief, umarmte die anderen und kam dann zu Stellinger.
Sie sahen sich beide an, zögerten, und dann trat Le heran und schlang die Arme um Stellinger. Es sah wie eine große Versöhnung aus, aber mit einem eiskalten Schrecken spürte Stellinger einen harten spitzen Gegenstand in seinem Rücken.
So schnell hatte Stellinger in seinem ganzen Leben noch nicht gehandelt. Er ließ beide Fäuste hochschnellen, stieß sie gegen Les Kinn und trat ihm gleichzeitig mit dem Knie in den Bauch. Mit einem dumpfen Schrei taumelte Le zurück, das breite Messer fiel aus seiner Hand, schlidderte übers Deck, direkt vor die Füße von Winter.
»Mein Messer!« schrie er sofort. »Der hat's also geklaut! Na warte …«
Aber bevor er etwas unternehmen konnte, fiel Le mit einem wilden Sprung, laut schreiend, Stellinger an und traf ihn mit den Füßen voll in die Brust. Stellinger hörte, wie in ihm die Rippen zerknacksten, wie er plötzlich keine Luft mehr bekam und alles um ihn herum sich in Lichtpunkte auflöste. Er fiel nach vorn auf das Gesicht und verlor die Besinnung.
Mit einem weiten Satz war Winter hinter Le, riß ihm das Hemd vom Leib und hieb ihm mit der Faust auf den Schädel. Le starrte ihn an, sah in Winters Hand das immer wieder geschliffene Messer, mit dem man jetzt in der Luft ein Papier zerteilen könnte, nur ein kurzes Zögern war es, dann stürzte er zur Reling, schwang sich hinüber und ließ sich ins Meer fallen.
Winter, der ihm nachhetzte, sah, wie Les Kopf aus dem Wasser auftauchte, und er dann mit kräftigen Zügen, immer wieder untertauchend, als fürchte er, man könne auf ihn schießen, zur nahen Küste schwamm.
»So ein Schwein«, sagte Pitz. Er kniete neben dem Verletzten. Stellingers Gesicht war bleich geworden, blutiger Schaum schob sich über seine Lippen. Dr. Herbergh winkte Kroll und Starkenberg herbei. Sie hatten von weitem hilflos zusehen müssen.
»Sofort ins Hospital Pitz, OP vorbereiten. Schnell, schnell. Hast du diesen Tritt gesehen? Er muß Franz die meisten Rippen gebrochen haben, und eine Rippe ist in seine Lunge gestoßen.« Er lief neben Stellinger her, tupfte ihm mit dem Taschentuch den Blutschaum vom Mund und brüllte Julia an, die laut schrie.
»Vom Schreien wird nichts besser! Anpacken!«
Sie legten Stellinger im OP auf den Tisch, rissen ihm das Hemd von der Brust, und während Julia das Röntgengerät heranrollte, sagte Herbergh zu Pitz: »Dr. Starke und Dr. Burgbach sind an Land, Johann, können Sie assistieren?«
»Ich habe lange genug zugesehen, Chef.«
»Aber die Narkose …«
»Das kann ich, Chef«, sagte Julia weinerlich. »Ich kann es bestimmt, ehe Franz innerlich verblutet.«
Der Röntgenapparat summte, Julia rannte mit der Platte in die Dunkelkammer, Pitz schob den Narkose- und Dauerbeatmungsapparat an den OP-Tisch. Den Tubus zur Intubationsnarkose nahm Herbergh selbst in die Hand.
»Sechs Rippen hin«, sagte Julia. Sie kam aus der Dunkelkammer und schwenkte das Röntgenbild, das im Schnellentwickler innerhalb von fünf Minuten verfügbar war. Über ihr Gesicht liefen Tränen. »Splitterbrüche …«
Dr. Herbergh hob das Bild gegen das Licht der OP-Lampe. Es sah nicht gut aus für Stellinger, wenn sie die innere Blutung aus der Lunge nicht beherrschten.
»Wir haben es doch immer geschafft, Kinder«, sagte Herbergh und ging zum Waschbecken. »Und Stellinger ist ein Stier. Der Matador muß noch gefunden werden, der ihn in den Sand legt.«
Am späten Abend kehrten Dr. Starke und Anneliese von Land zurück. Die Übergabe der Flüchtlinge hatte sich reibungslos vollzogen. Bei der Erwähnung der 243 an Bord Gebliebenen winkten die
Weitere Kostenlose Bücher