Das goldene Ufer
zu sitzen und ihr über den schwarzen Haarschopf zu streichen. Ähnlich wie sie hatte er sich nach dem Ableben seiner Mutter gefühlt, und nun lag ihm Reint Heurichs Tod auf der Seele.
Viel Zeit zu trauern blieb ihnen nicht, denn der neue Wachtmeister der ersten Kompanie kam heran. »Los, aufstehen! Der Oberst will euch sehen. Es geht um den Engländer, den wir gestern gefangen haben. Schätze, es gibt eine kleine Gerichtsverhandlung, und dann baumelt der Kerl an einem kräftigen Ast, wie es sich für seinesgleichen gehört.«
Walther stand auf und zog Gisela hoch. »Komm! Wir müssen dem Befehl des Herrn Oberst folgen.«
Das Mädchen nickte stumm und kam immer noch weinend mit ihm zu Renitz. Dort mussten sie ein wenig warten, da soeben mehrere Kuriere erschienen waren, um dem Oberst Informationen und Befehle zu überbringen.
»Die ersten preußischen Korps sind bereits abgerückt, um die fliehenden Franzosen zu verfolgen. Wir müssen verhindern, dass der Feind sich wieder sammelt und weiterhin Widerstand leisten kann. Noch einmal halten weder wir noch die Engländer eine Schlacht wie diese durch«, erklärte gerade einer der Offiziere.
»Wolle Gott, dass dieser Krieg endlich vorbei ist und wir in unsere Heimat zurückkehren können!« Graf Renitz atmete tief durch und schien von einer Zukunft zu träumen, in der nicht Tausende von Leichen und Pferdekadavern den Boden bedeckten, sondern sich das Korn sanft im Winde wiegte und auf grünen Wiesen gescheckte Kühe weideten. Rasch kehrte er in die Gegenwart zurück und nickte den Kurieren zu.
»Überbringt Seiner Exzellenz meine aufrichtigsten Glückwünsche zum Sieg und meldet ihm, dass ich mich mit meinem Regiment wie befohlen morgen früh in Marsch setzen werde. Ich hoffe, zur rechten Zeit in Paris einzutreffen.«
»Das hoffen wir alle. Damit Gott befohlen, Oberst Renitz!« Der Kurier salutierte, stieg auf sein Pferd und ritt weiter. Auch die anderen Kuriere machten sich auf den Weg, und so war Medard von Renitz endlich in der Lage, sich um Walther und Gisela zu kümmern.
»Ich hoffe, euch geht es gut. Hat man euch etwas zu essen gegeben?«
Gisela hatte bis jetzt nichts essen können, und auch Walther war der Appetit vergangen. Trotzdem nickten beide. »Ein bisschen Durst habe ich«, sagte das Mädchen, dem es ebenfalls vor dem Wasser in den Teichen und Bächen der Umgebung grauste.
»Dem kann abgeholfen werden!« Oberst Renitz befahl seinem Burschen, zwei Becher mit Wein zu bringen, und wartete, bis Gisela und Walther daraus getrunken hatten.
Dann winkte er seinen Sohn zu sich. »Bring diesen elenden Mörder her, damit er seine gerechte Strafe erhält.«
»Jawohl, Herr Oberst!« Diebold von Renitz kochte innerlich vor Wut, weil sein Vater ihn schon wieder wie einen Laufburschen behandelte. Missmutig stiefelte er zu dem gefesselten Engländer.
»Hebt ihn auf und bringt ihn zu meinem Vater, dem Oberst. Er will über ihn richten.«
»Das könnt ihr nicht!«, rief der Gefangene in schlechtem Deutsch.
»Wir können sehr viel«, gab einer der Soldaten zurück, stellte den Kerl zusammen mit einem Kameraden auf die Beine und schob ihn vorwärts. Besonders zart gingen die Musketiere nicht mit dem Engländer um.
Diebold von Renitz folgte ihnen und sah, dass sich neben den Offizieren und den meisten Unteroffizieren auch der Regimentsgeistliche bei seinem Vater eingefunden hatte. Die Mienen der Männer wirkten düster und versprachen Walburga Fürnagls Mörder wenig Gnade.
»Wie heißt du?«, fragte Oberst Renitz und wiederholte, als er keine Antwort erhielt, die Frage auf Englisch.
Der Gefangene schluckte, um seine ausgetrocknete Kehle zu befeuchten, und sah den Oberst von schräg unten an.
»Wird’s bald!«, bellte ihn der neue Wachtmeister der ersten Kompanie an. »Wenn du nicht rasch redest, hängen wir dich eben auf, ohne deinen Namen zu kennen.«
Da der Gefangene spürte, dass die Deutschen die Sache am liebsten rasch hinter sich bringen würden, beschloss er zu reden. »Ich bin Nicodemus Spencer vom 57. Regiment Seiner britischen Majestät. Ihr könnt mich nicht aufhängen. Ich bin englischer Soldat!«
»Ein Mörder bist du, ein Lump und ein Leichenfledderer«, brach es aus Gisela heraus.
»Das ist eine Lüge! Ich habe nicht gefleddert. Ich wollte nur eine Leichenfledderin von ihrem verderblichen Tun abhalten«, log der Engländer in der Hoffnung, damit den Kopf aus der Schlinge ziehen zu können.
Graf Renitz war des Ganzen müde und wollte nur
Weitere Kostenlose Bücher