Das goldene Ufer
beweisen?«
Der alte Mann nickte heftig. »Jawohl! Es handelt sich um ein Medaillon, in dessen Innern sich ein Bild meiner Frau befindet. Man erkennt sie damit immer noch, außerdem ist unsere jüngste Tochter ihr Ebenbild.«
»Es gibt also einen Beweis. Sehr schön!« Der Kapitän schätzte die Lage kurz ab und erteilte mit einem zufriedenen Grinsen seine Befehle. »Alle Passagiere kehren auf ihre Plätze zurück. Meine Männer werden jetzt jeden Einzelnen von euch samt seinem Gepäck durchsuchen. Der, bei dem sie dieses Medaillon finden, wird als Dieb am Mast aufgehängt.«
Ein Aufstöhnen aus mindestens einem Dutzend Kehlen folgte, während die Normannen mit grimmigen Gesichtern zustimmten. Gertrude, die für Gisela und Walther übersetzt hatte, kehrte zu ihrem Platz neben dem Niedergang zurück. Walther sah ihr nach und bemerkte, wie der Mann, den er schon am ersten Tag bei einem Diebstahl beobachtet hatte, sich heimlich an ihren Sachen zu schaffen machte. Er schien etwas hineinzustecken.
»He, was tust du da?«, rief er laut und alarmierte damit den Kapitän.
Sofort fuhr Buisson herum, packte den Dieb so hart am Oberarm, dass dieser aufstöhnte, und schob ihn zwei Matrosen in die Arme. Dennoch gelang es dem Mann, einen kleinen Gegenstand unauffällig auf Gertrudes Decke zu werfen.
Bertrand bemerkte es, trat neben den Kapitän und bückte sich nach dem Ding. Als er sich aufrichtete, hielt er ein goldenes Medaillon in der Hand. Mit einem Grinsen reichte der Matrose es dem Kapitän, der es seinerseits dem Oberhaupt der Normannen hinhielt.
»Das ist mein Medaillon«, erklärte dieser und öffnete es.
Walther war zu weit weg, um das kleine Bild erkennen zu können, doch Buisson nickte und wies zwei seiner Männer an, den Dieb zu fesseln und an Deck zu bringen. »In einer halben Stunde wird der Kerl aufgehängt. Alle Passagiere haben dabei zu sein, damit sie merken, dass es sich nicht lohnt, auf meinem Schiff lange Finger zu machen.«
»Ihr könnt mich nicht aufhängen«, kreischte der ertappte Dieb voller Angst. »Das dürft ihr nicht!«
»Und wer sollte uns daran hindern?«, fragte der Kapitän höhnisch. »Der Einzige, der es könnte, wäre unser Herrgott im Himmel. Und ich glaube nicht, dass er deinetwegen auf mein Schiff kommt und sagt: Mein lieber Hérault, du darfst diesen Mann nicht aufhängen, weil er mir so am Herzen liegt.«
Die Matrosen lachten schallend. Doch Walther, der sich alles von Martin Jäger übersetzen ließ, lief es kalt den Rücken herunter. Er begriff, dass Buisson den Mann nicht nur wegen des Diebstahls bestrafen wollte. Dem Kapitän ging es darum, seine Passagiere so einzuschüchtern, dass ihm niemand mehr zu widersprechen wagte. Eine Berührung am Arm unterbrach seine Überlegungen. Er blickte sich um und erkannte Gertrude, die bleich zu ihm zurückgekommen war.
»Danke!«, flüsterte sie mit blutleeren Lippen. »Wenn Sie nicht achtgegeben hätten, würde man mich jetzt als Diebin aufhängen.«
Da mischte sich ihr Nachbar ein. »Frauen hängen sie nicht auf. Die stecken sie in einen Sack, geben eine Kanonenkugel hinein, binden ihn oben zu und schmeißen ihn über Bord. So hat es mir mein Bruder beschrieben. Allerdings haben sie das arme Ding vorher noch einige Tage im Kielraum festgehalten, und sie musste vom Kapitän an bis zum letzten Matrosen die gesamte Mannschaft ertragen.«
»Oh Gott im Himmel! Nun bin ich Ihnen doppelt dankbar, dass mir dies erspart geblieben ist, Herr Artschwager.« Gertrude fasste nach Walthers Hand und führte sie an die Lippen.
Walther nickte gedankenverloren und sagte sich, dass er froh sein würde, wenn Gisela und er die Loire verlassen und in den Vereinigten Staaten ein neues Leben beginnen konnten. Die rauhen Stimmen der Seeleute, die die Passagiere aufforderten, an Deck zu kommen, riefen ihn in die Gegenwart zurück, und er reichte Gisela den Arm.
»Wirst du es durchstehen?«, fragte er.
Seine Frau nickte. »Ich bin ein Soldatenkind und habe viele Menschen sterben sehen, auch auf diese Weise.«
Innerlich aber zitterte Gisela und betete, dass es bald vorbei sein würde.
Da ihnen der am weitesten vom Niedergang entfernte Platz auf dem Zwischendeck zugewiesen worden war, gehörten sie zu den Letzten, die an Deck stiegen. Der Rest der Passagiere hatte sich zwischen dem Großmast und dem Ruderhaus versammelt und starrte teils ängstlich, teils zufrieden auf den Dieb, der mit auf den Rücken gefesselten Händen neben dem Mast stand und nicht zu
Weitere Kostenlose Bücher