Das goldene Ufer
den Jungen zur Mittagsstunde. Walther sauste in die Küche, um etwas zu essen zu bekommen und um die Mamsell zu fragen, welche Aufträge sie für ihn habe.
In der Küche traf er Gisela an, die an diesem Tag der Köchin geholfen hatte. Das Mädchen sah ihn lächelnd an. »Hast du heute viel gelernt?«
»Es geht«, antwortete Walther, der außer dem Aufschreiben von Gebeten wenig hatte tun müssen. Allerdings hatte er Künnens Ausführungen, die Diebolds Lehrstoff betrafen, folgen können und spürte, dass der Vormittag doch nicht vergebens gewesen war.
»Auf alle Fälle habe ich mich im Schreiben geübt, und das ist mehr, als ich im letzten Jahr getan habe«, setzte er hinzu, um Gisela nicht den Eindruck zu vermitteln, er würde nur ungern lernen.
»Aber jetzt hast du Hunger, nicht wahr?«, fragte die Köchin. »Hier hast du deinen Napf. Ich habe dir extra zwei Fleischstückchen mit hineingetan. Ein junger Bursche wie du braucht Kraft zum Wachsen.« Cäcilie stellte Walther eine Schüssel hin und reichte ihm einen Löffel.
Der Junge setzte sich und begann mit gutem Appetit zu essen. »Das schmeckt gut!«, lobte er die Köchin zwischen zwei Bissen.
»Das tut es wirklich«, stimmte Gisela ihm zu. Da sie seit ihrer Geburt nichts anderes kennengelernt hatte als Soldatenlager und Heerzüge, waren Hunger und Not ihre ständigen Begleiter gewesen, während der Junge bis fast zu seinem zwölften Lebensjahr im nahe gelegenen Dorf gelebt hatte. Aus dieser Erfahrung heraus war sie froh, jeden Tag etwas zu essen zu bekommen.
»Haben deine Eltern den Feldzug nach Russland mitgemacht?«, fragte die Mamsell, die selbst kaum weiter als zwei deutsche Meilen von Renitz weggekommen war, sich aber für alles interessierte, was in der Welt vorging.
»Wir sind mit einem bayrischen Regiment hingezogen, das hinterher nicht mehr existiert hat.« Gisela wischte sich die Tränen aus den Augen, als sie an den Schrecken dieses Feldzugs dachte, den Napoleon voller Überheblichkeit begonnen und so erbärmlich beendet hatte.
»Wie seid ihr dann eigentlich zu unserem Regiment gestoßen?«, wollte Walther wissen.
»Unseres hatte zu viele Männer und Marketenderinnen durch Hunger und Kälte verloren und sich schließlich ganz aufgelöst. Daher mussten sich die Überlebenden den noch halbwegs vollständigen Regimentern anschließen. Renitz hatte viele Unteroffiziere verloren, und so war Vater dort willkommen. Später hätte Mutter es lieber gesehen, wenn wir wieder nach Bayern gezogen wären. Doch König Maximilian war damals noch mit Napoleon im Bunde, und für den wollte Vater auf keinen Fall mehr kämpfen. So sind wir beim Regiment Renitz geblieben und haben Leipzig und einige andere Schlachten mit ihm durchgestanden, bis Vater und Mutter schließlich bei Waterloo getötet wurden.«
Nun vermochte Gisela ihre Tränen nicht mehr zurückzuhalten. Die Köchin seufzte mitfühlend und stellte ihr ein kleines Schüsselchen mit der Nachspeise hin, die eigentlich für den Tisch des Grafen gedacht war.
»Komm, iss, Kleine! Es wird schon alles wieder gut.«
»Ganz gewiss wird es das«, pflichtete Walther ihr bei und drückte Gisela seinen Löffel in die Hand.
5.
A m Mittagstisch des Grafen ging es um einiges steifer zu als in der Küche. Außer Renitz, seiner Gemahlin und seinem Sohn saß nur noch Pastor Künnen an der Tafel. Dieser sprach das Tischgebet und berichtete zwischen den Gängen dem Grafenpaar von Diebolds Fortschritten. Da er die Liebe der Gräfin zu ihrem Sohn kannte, beschönigte er dessen Leistungen ein wenig und bedauerte die Zeit, die der Junge während seines Aufenthalts beim Regiment verloren habe.
»Graf Diebold muss leider auf einer Stufe ansetzen, die der eines um mehrere Jahre jüngeren Knaben entspricht, und er wird wohl auch nicht im üblichen Alter sein Studium beginnen können«, setzte er bedauernd hinzu.
Graf Renitz klopfte mit dem Löffel auf den Tisch. »Es war Diebolds Pflicht als aufrechter Patriot, dem Vaterland zu dienen. Ob er nun ein oder zwei Jahre später sein Studium beginnen kann, bleibt sich gleich.«
»Ihr habt unseren einzigen Sohn in Gefahr gebracht! Wie leicht hätten wir ihn verlieren können.« Diesen Vorwurf machte die Gräfin ihrem Mann nicht zum ersten Mal.
Renitz war dieser und vieler anderer Klagen leid und ging nicht auf ihre Worte ein. Stattdessen fragte er nach Walther. »Wie macht sich der junge Fichtner?«
»Der ist strohdumm!«, antwortete sein Sohn lachend. »Er kann nicht einmal
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